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Mein Leben in 80 B

Mein Leben in 80 B

Titel: Mein Leben in 80 B
Autoren: Anja Goerz
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veranstaltete Dessous-Partys, um sich nicht von irgendeiner Miederwaren-Fachverkäuferin an die Brust greifen zu lassen oder Unterwäsche in einer Kabine anprobieren zu müssen, die wie für eine Operation am offenen Herzen beleuchtet war.
    Ich stellte mir vor, was Toni wohl dazu sagen würde, wenn ich eine Pimmel-Kopie mit Batteriebetrieb mit nach Hause brächte. «Hast du Verspannungen in der Schulter?» vielleicht oder etwas ähnlich bemüht Witziges. Nicht, dass wir extra Schwung nötig hätten. Schließlich hatten wir nach zwei Kindern und mehr als fünfzehn Jahren Ehe immer noch Sex. Gut, sicher nicht so oft wie während unserer ersten Verliebtheit. Aber wenn ich nicht zu einer Verkaufsparty unterwegs war und Toni rechtzeitig aus der Agentur nach Hause kam und die Kinder früh genug einschliefen und wir nicht zu müde waren und nicht zu viel Knoblauch gegessen hatten, dann hatten wir schon noch Sex.
    Selbstverständlich kannte ich die ganzen schlechten Witze über die Ehen, in denen der Beischlaf nur noch an Geburts- und hohen Feiertagen stattfand. Aber darüber waren Toni und ich nun wirklich erhaben. Zugegeben, es kam schon ab und zu vor, dass ich bei seinen rhythmischen Stößen darüber nachdachte, ob ich am nächsten Tag zur Reinigung musste, ob die Sportsachen von Hanna gewaschen waren oder ob ich den abgelaufenen Joghurt in den Müll geworfen hatte. Manchmal stellte ich mir bei geschlossenen Augen das Gesicht von George Clooney oder eine aufregende Nummer in einem Swimmingpool oder Fahrstuhl vor. Über wildes Vögeln auf dem Teppichboden im Arbeitszimmer waren wir nie hinausgekommen. Das war ohnehin eine einmalige Aktion gewesen, bei der wir die Gunst der kinderfreien Stunde genutzt hatten, als Hanna noch sehr klein gewesen war und bei ihrer Oma übernachtet hatte. Aber ich fand sowieso, dass Sex außerhalb des Betts überschätzt wurde. Nach der Nummer auf dem Fußboden hatte ich tagelang Rückenschmerzen und einen riesigen blauen Fleck kurz über dem Steißbein gehabt. Da Toni ein sehr liebevoller und ausdauernder Liebhaber war, war ich bisher meistens trotzdem auf meine Kosten gekommen und hatte es nur selten für nötig befunden, ihm einen Orgasmus vorzuspielen, damit ich endlich schlafen konnte.
    Kennengelernt hatten wir uns auf der Party einer Studienfreundin in Hamburg. Ich wollte Fotografin werden, träumte von einer Karriere à la Herlinde Kölbl oder Jim Rakete. Meine Bilder stellte ich mir als schwarz-weiße Kunstwerke vor. Ich hatte eine Mappe mit Fotografien von Gesichtern, die Geschichten erzählten: alte Männer mit Falten wie alte Ledertaschen, Babys mit Augen so weise wie die von Senioren. Eine Gruppe lachender junger Frauen Arm in Arm, weinende Fußballspieler nach einer Niederlage. Meine Grundlage für ein Studium an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg. Ich hoffte auf entscheidende Impulse für meine spätere Karriere als Promi- und Gesellschaftsfotografin, lebte in einer kleinen Wohnung zusammen mit Elissa, die auf die Journalistenschule ging, und träumte von der großen weiten Welt. Und dann traf ich Toni auf dieser Party.
    Ich hätte meine gesamte schweineteure Kameraausrüstung darauf verwettet, dass Antonio Romagnolo ein Künstlername war. Nie im Leben wäre ich darauf gekommen, dass dieser blasse rothaarige Typ mit der Sehschwäche und dem norddeutschen Zungenschlag der Sohn einer Deutschen und eines Italieners war. Seine Eltern waren vor Jahren aus Venedig nach Deutschland gezogen, hatten mit einem Restaurant das große Geld gemacht und den Betrieb daraufhin gewinnträchtig verkauft. Dann waren sie in die Heimat seines Vaters zurückgekehrt. Aber für Toni, der als Baby nach Hamburg gekommen war, löste der Anblick der großen Fontäne in der Alster mehr heimatliche Gefühle aus als eine Gondelfahrt in Venedig.
    Er berichtete mir von seiner großen Familie in Italien, seinen Ideen als junger Produktmanager in einer kleinen Werbeagentur, seiner heimlichen Leidenschaft für spanischen Rotwein und aufgewärmte Tiefkühlpizza.
    «Ich weiß, ein Italiener mit roten Haaren ist so ungewöhnlich wie ein Schwede mit schwarzen Locken, aber das sind die starken Gene meiner Mutter», hatte er lachend erklärt, als ich meine Verwunderung über seine Herkunft nicht verbergen konnte.
    Und all das erzählte er, als wäre ich der letzte Mensch auf der Welt, als hätte er diese Dinge nur in seinem Herzen bewahrt, um mich daran teilhaben zu lassen. Während ich in seine blauen Augen
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