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Mein Leben in 80 B

Mein Leben in 80 B

Titel: Mein Leben in 80 B
Autoren: Anja Goerz
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zwei Fliegen mit einer Klappe: Ich kam ab und zu aus dem alltäglichen Familientrott heraus und verdiente mir zudem ein Taschengeld, das ich für Notfälle auf einem eigenen Konto bunkerte. Toni wollte nicht, dass ich vom «Wäsche-Geld», wie er es nannte, auch nur einen Cent für die Familie ausgab. Mit seiner Werbeagentur verdiente er so gut, dass wir zusammen mit unserem Sohn und unserer Tochter in einem schönen kleinen Häuschen am Rand von Berlin wohnen konnten, ohne dass ich wieder den ganzen Tag in einer Kaufhausabteilung für Damenoberbekleidung stehen oder in einer Boutique gelangweilten Neureichen dazu raten musste, doch lieber das T-Shirt für zweihundertfünfzig Euro zu kaufen, statt das Geld für ein einfaches Hundert-Euro-Teil auszugeben. Das hatte ich nach der Geburt meiner Tochter Hanna vor fünfzehn Jahren gemacht, um wieder unter Leute zu kommen. Schließlich hatte ich nichts Richtiges gelernt, mein Studium abgebrochen, als ich schwanger geworden war, und dann von Tonis Geld gelebt. Das zum Glück wegen einiger größerer Aufträge zu Beginn seiner Werber-Karriere schon sehr früh sehr reichhaltig gewesen war. Nachdem ich mich nach der Geburt unseres zweiten Kindes, Tom, einige Jahre ausschließlich um die Familie gekümmert hatte, wollte ich einfach mal wieder etwas anderes machen als Legosteine aufsammeln, Saftschorle mischen und Kekse backen. Deshalb hatte ich begeistert auf eine Kleinanzeige geantwortet, in der Frauen gesucht wurden, die sich «auf angenehme Art ein wenig Geld dazuverdienen» wollten. Ein wenig Erfahrung im Verkauf konnte ich schließlich schon vorweisen.
    Also versuchte ich heute, meine ehemalige Klassenkameradin Sylvia, die mit ihrem Mann in einem schicken Haus in Potsdam wohnte, davon zu überzeugen, nicht nur den einen teuren Body zu kaufen (Modell
Chantal
, wattierte Cups ohne Bügel von A–C, Baumwoll-Kunstfaser-Mischung, mit eleganter Blütenstickerei auf zartem Tüll und verstärkter Bauchpartie für die perfekte Silhouette, sechs Farben zur Auswahl für 89 , 99  €). Denn mir war klar: Wenn ich die Bestellung von Sylvia erst einmal auf meinem Zettel hatte, dann würden die anderen nachziehen.
    Das war schon in der Schule so gewesen. Wenn Sylvia damals, als wir noch im beschaulichen Flensburg nahe der dänischen Grenze wohnten, plötzlich rote Jeans trug, dann wollten alle rote Jeans haben. Hatte Sylvia Stress mit ihrem jeweiligen Freund, trafen sie und die Hofdamen sich ausdrücklich nur noch ohne Jungs im Eiscafé und feierten Mädchen-Pyjama-Partys. Und als Sylvia nicht mehr ohne Nagellack aus dem Haus ging, verabredeten sich die Klassenkameradinnen zu Lack-Sessions bei Yogi-Tee und Räucherstäbchen. Und das, obwohl Sylvia doof wie Brot war und sich in der Schule nur durch Spickzettel und Abschreiben von ihrer Gefolgschaft von Versetzung zu Versetzung rettete. Aber da ein tiefer Ausschnitt und ein knapper Minirock das ein oder andere Studiensemester wettmachten, hatte Sylvia während einer Wochenendreise nach Berlin einen knapp fünfzehn Jahre älteren Anwalt gefunden, der sie heiratete und aus Flensburg wegholte. Und dieser Anwalt war der Meinung, Ehefrauen sollten in erster Linie hübsch sein und ihren Gatten dekorieren. Daher verbrachte meine kinderlose ehemalige Klassenkameradin ihre Tage mit Besuchen beim Friseur und bei der Kosmetikerin, in Einkaufszentren und im Fitnessstudio – ach ja, und beim Schönheitschirurgen natürlich. Brüste größer, Nase gerader, Botox in die Stirn, Fett raus aus dem Hintern und rein in die Lachfältchen. Meine beste Freundin Elissa hätte auf ihre direkte Art sicher festgestellt, dass die Bezeichnung «Arschgesicht» so eine ganz neue Bedeutung bekam.
    Heute hatte Sylvia ihre Nachbarinnen um sich versammelt, denn als Gastgeberin glänzte sie für ihr Leben gern. Klotzen, nicht Kleckern war ihre Devise. Außerdem hatte sie einige unserer alten Klassenkameradinnen eingeladen, die ebenfalls in Berlin oder Potsdam lebten. Berlin war schon in den letzten Jahren unserer Schulzeit das Wunschziel Nummer eins gewesen. In der Hauptstadt spielte sich das wirkliche Leben ab, da waren wir sicher. Hier musste man hin, wenn man mitreden wollte, wenn man sich eine aufregende Zukunft versprach. Tatsächlich unterschied sich Berlin nicht wesentlich von den anderen Großstädten, aber das stellten die meisten erst mitten im Studium fest oder wenn sie bereits schwanger waren. Mittlerweile waren wir um die vierzig, und trotzdem hatten sich
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