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Das vierte Skalpell

Das vierte Skalpell

Titel: Das vierte Skalpell
Autoren: Hans Gruhl
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I
     
    Mein Zug lief um 10 Uhr ein, über eine
Viertelstunde später, als er sollte. Wahrscheinlich hatte er sich langsamer
bewegt, nachdem er Bayerns Grenze überfahren hatte.
    Ich hob meinen Koffer an, sagte
Wiedersehen zu meinem Schlafwagenpartner, einem mageren Jüngling mit
abstehenden Ohren, und kletterte auf den Bahnsteig hinunter.
    Die Leute quirlten am Zug entlang. Über
die Wagenfenster zogen schräge Bahnen von Regenspritzern. Der Lokführer hing
aus dem Führerstand, sah sich an, was er da befördert hatte, und kaute auf
seiner Zigarre. Ich quetschte mich durch die Sperre. Nach einigem Herumsuchen
fand ich die Gepäckaufgabe und deponierte meinen Koffer. Dann ließ ich mich in
den Bahnhofsgaststätten dritter Klasse nieder. Ich wußte, daß derselbe Kaffee
in der zweiten Klasse eine halbe Mark mehr kostete. Was mir fehlte, war ein
gutes Frühstück. Mein Abendbrot war preußisch gewesen. Also...
    »Bitt schön, der Herr?«
    Sie hieß Kathi, wie sich herausstellte.
Ihre Schürze war nicht sauber, aber ihr Gesicht um so mehr. »Weißwürste?«
    »Freilich.«
    »Fünf. Und...« Kaffee? Quatsch! Zum
Einstand in München gehörte Bier. »Einen halben Liter Helles.«
    Ich aß die Weißwürste und trank das
Bier. Ich hatte Zeit und fühlte mich wohl. Ab übermorgen hatte ich eine Stelle.
Ich, hier in München, wo die Leute im allgemeinen nur zum Geldausgeben
herkommen. Die Stadt gehörte schon zur Hälfte mir.
    Ich bestellte mir einen Enzian und zog
die Briefe aus der Brusttasche. Der erste war etwas zerknittert, und die
Schrift ließ auf Scheitern vor der letzten Volksschulklasse schließen.
     
    Habe ein gutes, warmes Zimmer in
Einfamilienhaus mit sonnigem Garten und Bad. Preis 65 Mark. Mit 15 Mark für
Heizung monatlich.
    Therese Lindinger
    Waldperlach
    Rotkäppchenstraße 74
     
    Therese Lindinger. Waldperlach.
Sonniger Garten mit Bad. Vermutlich würde sie zum Baden eine Zinkwanne in den
sonnigen Garten stellen.
    Der zweite Brief erweckte mehr
Ehrfurcht. Holzfreies Papier mit Perlschrift und sorgsam ausradierten
Tippfehlern.
     
    Anita Rohnstedt, München 27, den 15.1.59
    Sehr geehrter Herr!
    Bezugnehmend auf Ihr Inserat in der
Süddeutschen Zeitung teile ich Ihnen mit, daß ich ein sehr schönes, möbliertes
Zimmer mit allem Komfort in solidem, gepflegtem Haushalt in bester Wohngegend
Bogenhausens zu vermieten habe. Ausstattung: Diplomatenschreibtisch (massiv
Eiche), Klubsessel, Couch, Bücherschrank, großer Tisch, Bad, fließendes Wasser,
Telefonbenützung. Bedienung vorhanden. Wäsche kann im Haus gewaschen werden.
    Ich lege Wert auf ruhige, solide Mieter
(Damenbesuch unerwünscht), biete dafür aber vollwertigen Ersatz eines eigenen
Heims.
    Besichtigung täglich zwischen 13 und 15
Uhr.
    Hochachtend Anita Rohnstedt
    Professorswitwe.
     
    Hm. Professorswitwe, massiv Eiche und
kein Damenbesuch.
    Es war immer dasselbe. Die Arbeitgeber
suchten nur allererste Kräfte und die Wirtinnen solide Untermieter. Was
unsereiner machen sollte, danach fragte niemand. Den Mietpreis hatte sie
schamhaft verschwiegen. Würde nicht billig sein, der Ersatz fürs eigene Heim.
    Ich goß den erdigen Enzian hinunter und
bezahlte. Kathi beschrieb mir den Weg nach Waldperlach, und ich versprach, nur
noch bei ihr Weißwürste zu essen.
    Ich fuhr eine knappe Stunde und war
schon ziemlich sauer, als ich in Waldperlach ankam. Therese Lindinger wohnte in
einem fahlen Neubau, an dem der Zement noch klebrig aussah.
    Sie war kaum höher als breit und sprach
wie jemand mit lockeren Zahnprothesen. Etwa ein Fünftel ihrer Erläuterungen
verstand ich. Vier Kinder mit allenfalls elf Monaten Altersunterschied standen
herum und bohrten in den Nasen. Viel Seife und Wasser hätten ihnen ohne Zweifel
gutgetan, aber Therese schien nichts davon zu halten.
    Das gute, warme Zimmer war schwach
möbliert und etwas größer als der Innenraum eines Mercedes 220. War wohl der
erste Auftrag eines Architekten gewesen, das hier. An der Wand hing das Bild
eines Radfahrklubs aus der Zeit der Inflation, umrahmt von verwelkten
Eichenlaubkränzen. Therese sagte, der zweite Radfahrer von rechts wäre ihr
Alter.
    Ich beglückwünschte sie und sah hinaus
in den sonnigen Garten. Unter dem Schneematsch lagen Bretterstapel und
erstarrte Sandhaufen.
    Mein Entschluß war gefaßt.
    Ich sagte zu Therese, es wäre alles
großartig und genauso, wie ich es mir vorgestellt hätte, aber leider etwas weit
für mich. Dann ließ ich sie und ihre Kinderchen im Einfamilienhaus
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