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Mein Jahr als Mörder

Mein Jahr als Mörder

Titel: Mein Jahr als Mörder
Autoren: Unbekannter Autor
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auf die     In der Mitte des Artikels war ein Rechteck ausgeschnitten: das Foto von R. Mein Gedächtnis behauptet, ich hätte es mit einer Stecknadel an die Wand gepikt. Im Halbprofil ein rundes Gesicht, ein älterer Mann im dunklen Anzug, das Haar nach hinten gekämmt, ein Beamtenmännlein von abstoßender Harmlosigkeit. Jemand, den man sofort vergessen könnte, mit dem man sich keine Minute befassen möchte. Wenn er nicht eine einzige Auffälligkeit hätte, den Hundeblick, die unterwürfig nach oben gerichteten Augen.
    Das ausgeschnittene Foto ist verschollen, ich hab es erst im Pressearchiv wieder entdeckt, Gedächtnis und Geständnis brauchen solche Indizien. Ein paar Wochen, Monate muss das Foto ein Fixpunkt an der Wand neben dem Schreibtisch gewesen sein, eine Zielscheibe.
    Monday, Monday, so good to be, erst drei Tage nach dem Urteil, am Montagabend, hatte ich Axel am Telefon.
    - Eine maßlose Sauerei, ich bin entsetzt, wirklich entsetzt, sagte ich.
    An den Wortlaut kann ich mich nicht erinnern, aber an die Scham, für mein Mitgefühl keine passende Sprache zu finden, nur das Gestammel der Empörung. Es sollte weder wie ein Beileidstelegramm noch wie eine politische Erklärung klingen. Der Freispruch für den Mörder seines Vaters war eine intime und eine extrem öffentliche Sache, wie ließ sich das in einem Satz unterbringen, bei einem hellhörigen Freund, am Telefon?
    Um nicht weiter nach Wörtern stochern zu müssen, fragte ich schnell, wie er das Urteil aufgenommen habe.
    - Ach, dazu fällt mir nichts mehr ein. Es ist immer dasselbe, seit zwanzig Jahren.
    - Wenigstens wurde ein Prozess geführt. Es gibt Schlagzeilen.
    - Hör auf! Die sind nächste Woche vergessen!
    - Und was sagt deine Mutter?
    - Die hat nichts andres erwartet.
    - Ich finde, man muss was tun.
    - Du bist gut! Meine Mutter tut seit zwanzig Jahren was gegen diese Bande, und was ist passiert? Nichts, nichts. Sie hat alle Gerichte der Stadt gegen sich, den Bundesgerichtshof auch, und darüber regt sich keiner auf. Du kannst ja protestieren, wenn du willst, und dann gucken wir mal, was dabei rauskommt.
    Axels Bitterkeit verletzte mich nicht, ich kannte seinen Ton und die unwirschen Bemerkungen, mit denen er mir Flausen aus dem Kopf scheuchte. Er nannte mich Idealist, ich ihn Pessimist, ein altes Spiel. Auch dem Freund verriet ich nichts von meiner fixen Idee. Er sollte nicht wissen, dass ich bei den albernen Silben «was tun» längst viel weiter als an ein Protestbriefchen dachte.
    - Wart ihr irgendwie, fragte ich, beteiligt an dem Prozess?
    - Das wollten wir, als Nebenkläger, aber das Gericht hat das abgewimmelt.
    - Obwohl der das Todesurteil für euren Vater fabriziert hat?
    - Abgewimmelt, ich sag es doch.
    - Und Havemann, hat der es versucht?
    - Nicht, dass ich wüsste, der hat auch andere Sorgen jetzt.
    - Die wollten euch nicht als Nebenkläger, das ist doch ein
    Skandal! Noch ein Skandal!
    - Ich kann das Wort Skandal nicht mehr hören, mein Lieber. Es ist ganz normal, es hat Methode. Außerdem, für Groscurth interessiert sich sowieso kein Mensch. In der DDR feiern sie die paar Kommunisten, die im Widerstand waren, in Westdeutschland die paar Offiziere, die viel zu spät den Putsch versucht haben. Damit haben sie beide das Alibi, das sie brauchen, und Leute wie mein Vater, die so viel getan und riskiert haben, vielleicht mehr als viele dieser Kameraden, fallen durch den Rost, weg damit. Nur Havemann hat die Gruppe hochgehalten. Und weil er der einzige Überlebende ist, haben die im Westen immer gedacht: ein Kommunist, der prahlt und lügt sowieso. Deshalb kennt niemand im Westen die E. U. Und jetzt, weißt du, was sie jetzt mit ihm machen ...
    - E. U., was heißt E. U.?
    - Europäische Union, so nannte sich die Gruppe. Die waren ihrer Zeit voraus, viel zu weit voraus, das war ihr Pech. Also, Havemann, weißt du, was sie jetzt machen, wo er gegen Ulbricht ist? Jetzt streichen sie ihn ganz aus dem Widerstand.
    - Aber die können doch nicht die Geschichte verdrehn!
    -Die auch! Vor kurzem ist ein Artikel über die Europäische Union erschienen, in einer DDR-Zeitschrift. Und da kommt Havemann nicht mehr vor, dafür stellen sie jetzt meinen Vater groß raus. Der hätte ihnen das um die Ohren gehauen!
    - Kann ich den Artikel mal lesen?, fragte ich.
    - Musst mal wieder meine Mutter besuchen, die hat das Zeug.
    Da klang ein Vorwurf mit, seit
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