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Mein Jahr als Mörder

Mein Jahr als Mörder

Titel: Mein Jahr als Mörder
Autoren: Unbekannter Autor
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den Kammer gerichtsrat R. und bildete mir ein, der habe bis vor kurzem in diesem düsteren, riesigen Steinkasten gearbeitet. Die Groscurths wohnten am Kaiserdamm, Ecke Lietzensee / Witzlebenplatz, und an der anderen Ecke, nur drei Häuser dazwischen, das Kammergericht. Das passte wunderbar in das Schreckbild von deutschen Widersprüchen: der Schreibtisch des Mörders R. nur den berühmten Steinwurf weit von der Wohnung seiner Opfer entfernt, der Witwe Groscurth und ihrer Söhne.
    Die Straßenbeleuchtung ließ wenig von den Fassaden erkennen, trotzdem starrte ich auf die Festung, zum pompösen Portal, zur wilhelminischen Imponier-Architektur, als wäre hier ein Schlüssel für meine Empörungen zu finden.
    Kein Licht hinter den Fenstern, offenbar waren die Putzfrauen schon fertig. Um die Ecke streckte sich die Längsseite des Gerichts noch weiter hin, wuchtiges Mauerwerk die halbe Witzlebenstraße entlang. Ein schwarzer Kasten, in dem die schwarzen Roben ihre schwarzen Urteile kochten, eine finstere Paragraphenumwälzanlage, die auch in der Stille des juris-tischen Feierabends nichts von ihrer Bedrohlichkeit verlor.
    Hier, dein Tatort, dachte ich, als sich die Phantasie des Nikolausabends wieder einstellte, hier in der Witzlebenstraße, wenn R. das Gericht verlässt und zu seinem Auto geht, dann die Pistole, dann fallen die Schüsse. Was für ein Irrtum! Dieser Herr Kammer gerichtsrat und Volksgerichtshofrichter hatte nämlich, wie ich Tage später erfuhr, nach dem Krieg nicht in Berlin, sondern in Schleswig Recht gesprochen.
    Die Sprechstunde der Frau Dr. Groscurth ging bis 18 Uhr, die letzten Patienten verließen die Praxis zwischen sieben und acht. Sie hatte mich zum Abendbrot eingeladen, und als ich an ihrer Tür stand, hatte sie noch den weißen Kittel an und begrüßte mich im Wartezimmer, das gleichzeitig das Durchgangszimmer zu den drei Wohnräumen und zur Küche war.
    - Blass siehst du aus.
    Blass sah sie auch aus, die lebhaften Augen und der kecke, muntere Gesichtsausdruck täuschten über ihre Erschöpfung nach dem langen Arbeitstag hinweg, auf die ich, ein ziemlich blinder, stumpfer Kerl, eigentlich hätte Rücksicht nehmen müssen. Sie legte den Kittel ab und führte mich in die Küche. Sie war allein, die Söhne wohnten nicht mehr bei ihr, und wies mir sofort die Rolle eines Halbsohns zu.
    - Du hast Glück, mein Lieber. Vorgestern ist das Weihnachtspaket aus Wehrda gekommen, Würste und Schinken. Auch die Ahle Worscht soll man nicht alt werden lassen. Na, komm her, iss erst mal ordentlich.
    Wehrda, das magische Wort, der verwunschene Ort, in dem alle Fäden zusammenliefen, die Wurzeln der Gros-curth-Geschichte und meiner Geschichte. Wehrda, das unscheinbare Nest, hatte uns verbunden, verstrickt, und wer immer das Dorf beim Namen nannte, sprach damit eine Zauberformel aus, die uns sofort friedlich und erinnerungsselig stimmte. Andere brauchen Gebäck oder Brausepulver, uns genügte, um das Gelände der Erinnerung zu betreten, eine harte, gut abgehangene Leberwurst. Es reichten der Geschmack und Majoranduft der Ahlen Worscht vom Bauern Döring, Groscurths Verwandtschaft, meine Nachbarn, um die schweren schönen Jahre auf dem Dorf wieder aufzurufen am Abendbrottisch in Berlin. Wir sprachen über ihren Neffen, meinen Freund, der jetzt den Hof führte, das Drama der jungen Bauern, die sich spezialisieren mussten und von morgens früh bis abends spät nur noch im Schweinestall schufteten. Frau Groscurth fragte nach Familie und Studium, ich antwortete knapp, weil ich die Zeit nicht mit solchen Gesprächen verplempern wollte.
    - Das ist Letscho, sagte sie, als sie mein Zögern vor einem Glas mit eingelegtem Gemüse bemerkte, Paprika und Tomaten aus Ungarn, Vitamine, musst du essen.
    Dem Etikett und den eher braunen als grünen oder roten Paprikastücken sah man an, dass das Glas von drüben kam, aus Ostberlin. Dort arbeitete Frau Groscurth seit den fünfziger Jahren drei Vormittage in der Woche als Betriebsärztin beim Rundfunk. Sie war darauf angewiesen, weil die Westberliner Behörden ihr die Versorgung als Verfolgte des Naziregimes gestrichen hatten, darauf komme ich noch, und weil sie die im Westen übliche ärztliche Geldschneiderei an ihren Charlottenburger Patienten aus Prinzip ablehnte. Von dem Ostgeld kaufte sie mit einer DDR-Einkaufskarte in der Karl-Marx-Allee Lebensmittel und schleppte die über die Grenze, durch die Mauer bis zum Kaiserdamm. Komplizierte Geschichten, Possen und Rührstücke aus dem
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