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Mein Jahr als Mörder

Mein Jahr als Mörder

Titel: Mein Jahr als Mörder
Autoren: Unbekannter Autor
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die Schutzmacht selbst. Ich hörte mehr auf die markante Modulation des Basses als auf die Neuigkeiten, bis die routiniert dahingesprochene Meldung kam: Das Schwurgericht am Berliner Landgericht hat den früheren Richter am Volksgerichtshof Hans-Joachim Rehse, vom Vorwurf des Mordes in sieben Fällen freigesprochen.
    Die Nachricht hatte nichts Sensationelles, nichts Unerwartetes, auch damals nicht. Jedes andere Urteil wäre eine Überraschung gewesen. Juristen werden von Juristen nicht verurteilt, Nazijuristen, auch wenn sie über zweihundert Todesurteile produziert haben, sowieso nicht. Ein Klischee wurde bestätigt, und doch lauerte hinter dieser Nachricht eine andere, eine geflüsterte Neuigkeit. Wie in einem dritten Ohr, im Labyrinth des Innenohrs, wo die Widersprüche hängen bleiben, hörte ich in den Silben aus dem Äther die Schwingungen einer geheimen Botschaft, die deutliche Aufforderung: Einer wird ein Zeichen setzen und diesen Mörder umbringen, und das wirst du sein.
    Nein, ich hatte nichts getrunken, stand nicht unter Drogen, war nicht aus dem Bett einer Freundin getaumelt. Völlig nüchtern war ich, nur etwas müde, als der Satz mich traf: Einer wird ein Zeichen setzen und diesen Mörder umbringen, und das wirst du sein!
    Der Sprecher kündigte das Wetter für das Wochenende an, während meine Phantasie vorwärts schoss: Ich mit Pistole, ein Knall, ein Mann kippt um, so einfach ist das, die logische Fortsetzung der Nachrichten. Es hätte mich nicht gewundert, aus dem Radio die Eilmeldung zu hören: Wie wir soeben erfahren, hat ein Berliner Student den Entschluss gefasst, den Richter R. umzubringen.
    Du spinnst! Ausgerechnet du! Vergiss es! So versuchte ich die Phantasie zu stoppen. Es war nicht einmal komisch, es war nur lächerlich, blöde, keinen halben Gedanken wert. Schluss!
    Denn ich hatte ja nicht einmal den Mut, einen Pflasterstein in die Hand zu nehmen, geschweige denn zu werfen. Ich als Täter, als Mörder, diese Vorstellung war mehr als tollkühn, sie war unmöglich, irre, bekloppt. Aber gerade wegen ihrer Absurdität, vermute ich heute, schlug sie Funken und entzündete die empfindliche Einbildungskraft, die sofort die passenden Bilder lieferte:
    Ich lehnte am Hauseingang irgendwo in der Witzlebenstraße vor dem Kammergericht, ich hatte die Hauptrolle und wartete auf den Justizmörder. Nicht lange, dann trat er, ein unauffälliger älterer Herr, aus dem Portal, wenige Stufen hinab und lief zu seinem Auto, wo ich ihn, nach kurzem Zielblick über Kimme und Korn, mit drei Schüssen niederstreckte und ruhigen Schritts Richtung Lietzensee entschwand, von allen Passanten erkannt und doch nicht aufgehalten in meinem selbstbewussten, stolzen Gang: junger Mann, ca. 20 bis 25 Jahre, ca. 180 cm, schlank, blond, bekleidet mit dunkel-blauer Windjacke und blauen Jeans - bis die Sirenen vom Kaiser dämm her meine feierliche Festnahme verkündeten und die Filmrolle riss.
    Ein simpler Kurzfilm: ein Schuft, ein Kerl, ein Schuss. Ein B-Movie, das war klar, aber ich spürte sofort die stimulierende Wirkung: das Glück, für einige Minuten ein Held zu sein, der Rächer der Gerechten.
    Es war zu spät, ich hatte keine Wahl. Denn das alles geschah, das kommt erschwerend hinzu, im Jahr neunzehnhundertachtundsechzig.
Der Mörder des Vaters des Freundes
    Die Erinnerung setzt Stunden später wieder ein, als ich neben Catherine lag, die sich befriedigt zur Seite gedreht und ihren Schlaf gefunden hatte. Nein, keine Französin, sondern eine ziemlich gute Fotografin, aus Marktredwitz nach Berlin geflohen, die ihren Vornamen Katharina der Mode der Zeit ent-sprechend französisch veredelt hatte und auf den lang gezogenen, ins eigene Echo mündenden i-Laut am Ende den größten Wert legte. Mit ihr ging ich auf die Straße und ins Bett, eine Liebe, die, wenn ich mich nicht täusche, ohne das Wort Liebe auskam. Wir führten die üblichen politischen und ästhetischen Debatten, aber von meiner Karriere als Mörder sollte sie nie ein Wort erfahren.
    Ich beneidete Catherine um ihren Schlaf, und mit dem Neid erwachten die Stimmen und Halluzinationen des frühen Abends. Wie in den Phasen vor umzitterten Entscheidungen, Prüfungen und Abenteuern legte sich das Gehirn nicht einfach schlafen. Im Auf und Ab wechselnder Gefühle quälte ich mich mit monologischen Ausflügen. Da spielt dir jemand einen Streich, sagte ich mir, das ist eine Falle. Wer wird sich heute noch über alte Nazis aufregen? Das kannst du den allzeit bereiten
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