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Mehr als nur ein halbes Leben

Mehr als nur ein halbes Leben

Titel: Mehr als nur ein halbes Leben
Autoren: Lisa Genova
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was ist, wenn der Erde die Schwerkraft ausgeht?«
    »Was habe ich dir gesagt, dass du anziehen sollst?«
    Keine Antwort.
    »Es ist November, du brauchst eine Hose, ein langärmeliges Hemd und Schuhe«, sage ich.
    Ich werfe einen Blick auf die Armbanduhr. 7.15 Uhr. Er steht noch immer da, und ich nehme an, er wartet auf eine Antwort auf die Frage über die Schwerkraft.
    »Na los!«
    »Komm schon, Junge, wir suchen dir was Besseres«, schlägt Bob vor, und sie schwirren zusammen ab.
    Ich packe die beiden anderen Kinder in Mützen und Jacken, verschicke noch ein paar E-Mails, schnalle Linus in seinen Schalensitz fürs Auto, höre meinen Anrufbeantworter auf der Arbeit ab, packe meine eigene Tasche, schreibe eine Nachricht für Abby wegen des Fußballspiels, kippe den letzten Rest kalten Kaffee hinunter und treffe schließlich Bob und einen passend angezogenen Charlie vor der Haustür.
    »Fertig?«, fragt Bob und sieht mich an.
    Wir ballen beide die Fäuste, bringen sie in Position.
    »Fertig.«
    Heute ist Freitag. Bob setzt die Kinder dienstags und donnerstags an der Schule und der Kindertagesstätte ab, und ich bringe sie montags und mittwochs hin. Der Freitag ist immer offen. Wenn nicht einer von uns einen stichhaltigen Grund vorbringt, weshalb er unbedingt vor der Schule zur Arbeit muss, knobeln wir es aus. Schere schneidet Papier. Papier wickelt Stein ein. Stein zertrümmert Schere. Wir nehmen das Knobeln beide sehr ernst. Ein Sieg ist etwas Wundervolles. Ohne Kinder im Auto sofort zur Arbeit zu fahren ist himmlisch.
    »Eins, zwei, dreeii!«
    Bob hämmert seine geschlossene Faust auf mein Friedenszeichen und grinst triumphierend. Er gewinnt weitaus öfter, als er verliert.
    »Verdammter Glückspilz.«
    »Es ist alles nur Geschick, Schatz. Schönen Tag noch«, sagt er.
    »Dir auch.«
    Wir küssen uns zum Abschied. Es ist unser typischer morgendlicher Abschiedskuss. Ein flüchtiges Küsschen. Eine gut gemeinte Gewohnheit. Als ich den Blick senke, sehe ich Lucys runde blaue Augen, die genau aufpassen. Ein Bild davon schießt mir durch den Kopf, wie ich selbst meine Eltern beobachtet habe, wenn sie sich küssten, als ich noch klein war. Sie gaben sich einen Begrüßungs- und einen Abschieds- und einen Gutenachtkuss, und zwar so, wie ich eine meiner Tanten geküsst hätte, und ich war immer schrecklich enttäuscht davon. Es war nie etwas Aufregendes dabei. Ich versprach mir, dass ich – wenn ich eines Tages heiraten sollte – Küsse haben würde, die etwas bedeuteten. Küsse, von denen ich weiche Knie bekommen würde. Küsse, die den Kindern peinlich sein würden. Küsse wie die von Han Solo, wenn er Prinzessin Leia küsst. Ich habe meinen Vater meine Mutter nie so küssen sehen. Warum nicht? Ich habe es nie verstanden.
    Jetzt verstehe ich es. Wir leben nicht in irgendeinem George-Lucas-Blockbuster-Abenteuer. Unser morgendlicher Abschiedskuss ist nicht romantisch, und er ist mit Sicherheit nicht sexuell. Es ist ein Routinekuss, aber ich bin froh, dass wir ihn haben. Er bedeutet trotzdem etwas. Er ist genug. Und er ist alles, wofür wir Zeit haben.

ZWEITES KAPITEL
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    »Mom, kann ich ein Stück haben?«, fragt Lucy.
    »Aber sicher, Schatz, welches Stück möchtest du denn?«
    »Kann ich deine Augen haben?«
    »Du kannst eins haben.«
    Ich rupfe mir den linken Augapfel aus der Augenhöhle. Er fühlt sich ein bisschen wie ein russisches Ei an, nur wärmer. Lucy reißt ihn mir aus der Hand und springt damit davon, lässt ihn auf dem Boden hüpfen wie einen Flummi.
    »Sei vorsichtig damit; ich brauche ihn wieder!«
    Ich sitze am Küchentisch und starre mit meinem einen Auge auf Hunderte von Zahlen in meiner Excel-Tabelle. Ich klicke mit dem Cursor eine Leerzelle an und gebe noch mehr Daten ein. Während ich tippe, wird mein Auge von irgendetwas außerhalb meines Blickfelds, genau über dem Laptopbildschirm, abgelenkt. Mein Vater, in seiner kompletten Feuerwehruniform, sitzt mir gegenüber im Sessel.
    »Hi, Sarah.«
    »Gott, Dad, du hast mich zu Tode erschreckt.«
    »Du musst mir deinen Blinddarm geben.«
    »Nein, der gehört mir.«
    »Sarah, widersprich mir nicht. Ich brauche ihn.«
    »Niemand braucht seinen Blinddarm, Dad. Du hast keinen neuen gebraucht.«
    »Warum hat er mich dann umgebracht?«
    Ich blicke hinunter auf meinen Computer. Eine PowerPoint-Folie erscheint auf dem Bildschirm. Ich lese sie.
    Gründe, weshalb der Blinddarm deines Vaters durchgebrochen ist:
•  
Er hatte zwei Tage lang Bauchschmerzen und
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