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Mehr als nur ein halbes Leben

Mehr als nur ein halbes Leben

Titel: Mehr als nur ein halbes Leben
Autoren: Lisa Genova
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gewiefter Bauunternehmer in den Startlöchern, um es zu kaufen, abzureißen und etwas zu bauen, was dreimal so groß und teuer ist. Fast jeder in der Stadt fährt einen Luxuswagen, macht Urlaub in der Karibik, ist Mitglied des Country Clubs und besitzt einen Zweitwohnsitz am Cape oder in den Bergen nördlich von Boston. Unserer ist in Vermont.
    Bob und ich kamen frisch von der Harvard Business School, ich schwanger mit Charlie, als wir hierherzogen. Mit 200000 Dollar Studienschulden am Hals und ohne Ersparnisse war es ein beängstigendes Vorhaben, sich Welmont und alles, wofür es steht, zu leisten. Aber wir zogen beide Erfolg versprechende Jobs an Land und hatten ein unerschütterliches Vertrauen in unsere Verdienstmöglichkeiten. Acht Jahre später können wir mit den Durchschnittsbürgern von Welmont in jeder Hinsicht mithalten.
    Die Grundschule von Welmont liegt nur etwa drei Meilen beziehungsweise zehn Minuten von unserem Haus in der Pilgrim Lane entfernt. Als ich an einer Ampel halten muss, werfe ich rasch einen Blick in den Rückspiegel. In der Mitte sitzt Charlie und spielt irgendetwas auf seinem Nintendo DS. Lucy starrt aus dem Fenster, während sie zu irgendeinem Hannah-Montana-Song auf ihrem iPod vor sich hin summt. Und mit dem Rücken zu mir, in seinem Auto-Schalensitz, nuckelt Linus an seinem Schnuller und sieht sich Elmos Welt in dem Spiegel an, den Bob an der Kopfstütze der Rückbank befestigt hat; das Video selbst läuft hinter ihm auf dem DVD-Player, der bei meinem Acura SUV zur Standardausstattung gehört. Niemand weint oder beklagt sich oder bittet mich um irgendetwas. Ach, die Wunder der modernen Technik!
    Ich bin noch immer wütend auf Bob. Ich habe um 8.00 Uhr eine Besprechung zur europäischen Personalpolitik. Sie ist für einen wichtigen Kunden, und ich stehe unter Stress deswegen, und jetzt mache ich mir zu allem Übel auch noch Sorgen, dass ich es nicht rechtzeitig schaffen werde, weil heute Montag ist – und damit mein Tag, um die Kinder zur Schule und zur Tagesstätte zu bringen. Als ich Bob das gesagt habe, hat er nur einen Blick auf seine Armbanduhr geworfen und gemeint: Keine Sorge, du schaffst das schon. Aber ich war nicht auf der Suche nach einer Zen-Einstellung.
    Charlie und Lucy sind für das Vor-Schulbeginn-Programm der Schule angemeldet, das jeden Morgen von 7.15 Uhr bis 8.20 Uhr in der Turnhalle stattfindet. Dort können die Kinder von Eltern, die vor 9.00 Uhr zur Arbeit müssen, unter der Aufsicht eines Lehrers herumhängen, bevor der Schultag offiziell um 8.30 Uhr beginnt. Mit nur fünf Dollar pro Tag und Kind ist das Vor-Schulbeginn-Programm ein echtes finanzielles Gottesgeschenk.
    Als Charlie in den Kindergarten kam, wunderte ich mich, nur wenige Kinder aus Charlies Klasse im Vor-Schulbeginn-Programm zu sehen. Ich war davon ausgegangen, dass alle Eltern in der Stadt dieses Angebot benötigten. Dann nahm ich an, dass die meisten von ihnen Kindermädchen hatten, die bei ihnen im Haus lebten. Manche haben tatsächlich eins, aber offenbar haben die meisten Kinder in Welmont Mütter, die sich entschieden haben, aus dem Berufsleben auszuscheiden und Vollzeit-Moms zu sein – alles Frauen mit einem Collegeabschluss, manche sogar mit einem Doktortitel. Darauf wäre ich nie im Leben gekommen. Ich kann mir nicht vorstellen, meinen Beruf aufzugeben, all die Jahre mit Aus- und Fortbildung vergeudet zu haben. Ich liebe meine Kinder, und ich weiß, dass sie wichtig sind, aber das sind meine Karriere und das Leben, das wir uns dank dieser Karriere leisten können, auch.
    Auf dem Schulparkplatz halte ich, schnappe mir ihre beiden Rucksäcke – die, ich schwöre es, mehr wiegen als die Kinder selbst –, steige aus und öffne die hintere Tür wie ein Chauffeur. Wem will ich eigentlich etwas vormachen? Nicht wie ein Chauffeur. Ich bin ein Chauffeur. Niemand rührt sich.
    »Na los, aussteigen !«
    Den Blick immer noch auf ihre elektronischen Geräte geheftet und als hätten sie alle Zeit der Welt, klettern Charlie und Lucy nacheinander aus dem Wagen und steuern im Schneckentempo auf die Schulpforte zu.
    Ich lasse Linus im Wagen und scheuche sie vor mir her, während der Motor und Elmo weiterlaufen.
    Ich weiß, jemand aus 60 Minutes oder Dateline NBC würde mir deswegen eine ordentliche Standpauke halten, und inzwischen rechne ich jeden Tag insgeheim damit, dass Chris Hansen hinter einem parkenden Volvo hervorschießt und mich überrumpelt. Ich habe mir meine Argumente bereits
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