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Mehr als nur ein halbes Leben

Mehr als nur ein halbes Leben

Titel: Mehr als nur ein halbes Leben
Autoren: Lisa Genova
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zurechtgelegt. Erst einmal wiegt der Auto-Schalensitz, in dem alle Babys unter einem Jahr von Gesetzes wegen fahren müssen, unvorstellbare neunzehn Pfund. Dazu kommt Linus, der fast genauso viel wiegt wie der Autositz, und das erbärmliche ergonomische Design des Griffs, sodass es physisch unmöglich ist, ihn irgendwohin zu tragen. Ich würde gern einmal ein Gespräch mit dem ungeheuer starken und offensichtlich kinderlosen Mann führen, der diese Dinger entworfen hat. Linus sieht sich zufrieden Elmo an. Warum soll ich ihn stören? Welmont ist eine sichere Stadt. Und ich werde nur ein paar Sekunden fort sein.
    Es ist ein ungewöhnlich warmer Morgen für die erste Novemberwoche. Noch gestern trugen Charlie und Lucy draußen Fleecemützen und Handschuhe, aber heute sind es fast zehn Grad, und sie brauchen kaum ihre Jacken. Zweifellos aufgrund des Wetters ist der Spielplatz der Schule voller tobender Kinder, was morgens nicht typisch ist. Das erregt Charlies Aufmerksamkeit, und schon bevor wir den Haupteingang erreichen, rennt er davon.
    »Charlie! Komm hierher!«
    Meine Ermahnung bremst ihn nicht einmal. Er steuert schnurstracks auf das Klettergerüst zu, ohne noch einmal zurückzusehen. Ich nehme Lucy auf den linken Arm und laufe ihm nach.
    »Ich habe keine Zeit dafür«, sage ich zu Lucy, meiner gefügigen kleinen Verbündeten.
    Als ich das Klettergerüst erreiche, ist die einzige Spur von Charlie seine Jacke, die zerknautscht auf einem Haufen Holzspäne liegt. Ich schnappe sie mir mit der Hand, in der ich bereits zwei Rucksäcke halte, und suche den Spielplatz ab.
    »Charlie!«
    Ich brauche nicht lange, um ihn zu entdecken. Er sitzt ganz oben auf dem Kletterturm.
    »Charlie, komm herunter, aber sofort!«
    Er scheint mich nicht zu hören, die Mütter in der Nähe hingegen schon. In ihren Designer-Sweatshirts, -T-Shirts und -Jeans, Tennisschuhen und Clogs scheinen diese Mütter alle Zeit der Welt zu haben, um morgens auf dem Schulspielplatz herumzuhängen. Ich spüre die Verurteilung in ihren strengen Blicken und stelle mir vor, was sie sich alles denken müssen.
    Er will an diesem herrlichen Morgen doch nur draußen spielen, wie alle anderen Kinder auch.
    Ist es denn zu viel von ihr verlangt, ihn ein paar Minuten spielen zu lassen?
    Seht ihr, wie er gar nicht auf sie hört? Sie hat ihre Kinder nicht im Griff.
    »Charlie, bitte komm herunter und komm mit. Ich muss zur Arbeit.«
    Er bewegt sich nicht vom Fleck.
    »Okay. Ich zähle bis drei. Eins!«
    Er brüllt wie ein Löwe zu einer Gruppe Kinder herunter, die von unten zu ihm hochsehen.
    »Zwei!«
    Er rührt sich nicht.
    »Drei!«
    Nichts. Ich könnte ihn umbringen. Ich sehe hinunter auf meine acht Zentimeter hohen Cole-Haan-Absätze, während ich mich einen geistig umnachteten Moment lang frage, ob ich in ihnen klettern könnte. Dann sehe ich auf meine Cartier-Armbanduhr. Es ist 7.30 Uhr. Ich habe genug.
    »Charlie, sofort, oder es gibt eine Woche lang keine Videospiele!«
    Das hilft. Er steht auf, dreht sich um und gibt sich geschlagen, aber anstatt mit den Füßen nach der nächsten Sprosse unter sich zu tasten, geht er in die Knie und springt in die Luft. Ein paar anderen Müttern und mir stockt der Atem. In diesem Sekundenbruchteil stelle ich mir gebrochene Beine und eine durchtrennte Wirbelsäule vor. Aber er springt lächelnd vom Boden auf. Gott sei Dank ist er aus Gummi. Die Jungen, die diesem todesmutigen Stunt zugesehen haben, jubeln voller Bewunderung. Die Mädchen, die in der Nähe spielen, scheinen ihn gar nicht zu bemerken. Die Mütter schauen weiter zu, um zu sehen, wie ich den Rest dieses Dramas bewältige.
    Da ich weiß, dass noch immer Fluchtgefahr besteht, setze ich Lucy auf dem Boden ab und nehme Charlie bei der Hand.
    »Aua, nicht so fest!«
    »Dein Pech.«
    Er zerrt an meinem Arm, so fest er kann, lehnt sich zur Seite und versucht sich loszureißen – wie ein aufgeregter Dobermann an einer Leine. Meine Hand ist jetzt verschwitzt, und er beginnt mir wegzurutschen. Ich halte ihn fester. Er zerrt heftiger.
    »Nimm mich auch bei der Hand«, jammert Lucy.
    »Ich kann nicht, Schatz, komm schon.«
    »Ich will deine Hand halten!«, kräht sie, ohne sich zu rühren, knapp am Rande eines Wutanfalls. Ich überlege schnell.
    »Halt Charlies Hand.«
    Charlie leckt die ganze Innenfläche seiner freien Hand ab und hält sie ihr hin.
    »Igitt!«, kreischt Lucy.
    »Na schön, hier.«
    Ich schiebe die beiden Rucksäcke und Charlies Jacke bis zu meinem
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