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Mehr als nur ein halbes Leben

Mehr als nur ein halbes Leben

Titel: Mehr als nur ein halbes Leben
Autoren: Lisa Genova
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hat nichts dagegen unternommen, außer ein bisschen Pepto-Bismol und etwas Whiskey zu trinken.
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Er hat die starke Übelkeit mit einem Achselzucken abgetan und nicht auf sein leichtes Fieber geachtet.
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Du warst auf dem College, deine Mutter war in ihrem Schlafzimmer, und er hat nicht die Feuerwehr oder den Notruf verständigt.
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Der Blinddarm hat sich entzündet und mit Gift infiziert.
•  
Wie jedes andere Lebewesen auch, das allzu lange missachtet wird, hielt der Blinddarm es schließlich nicht mehr aus und tat, was getan werden musste, um die Aufmerksamkeit deines Vaters zu bekommen.
    Ich blicke zu meinem Vater auf. Er wartet noch immer auf eine Antwort.
    »Weil du ignoriert hast, was du gefühlt hast.«
    »Ich bin vielleicht tot, aber ich bin immer noch dein Vater. Gib mir deinen Blinddarm.«
    »Er hat keine Funktion. Ohne ihn bist du besser dran.«
    »Eben.«
    Er starrt mich unverwandt an, überträgt seine Gebanntheit wie ein Funksignal durch mein eines Auge in mein Bewusstsein.
    »Ich werde schon klarkommen. Mach dir keine Sorgen um mich«, verspreche ich.
    »Wir machen uns alle Sorgen um dich, Sarah.«
    »Ich komme schon klar. Ich muss nur noch diesen Bericht zu Ende schreiben.«
    Ich sehe auf den Bildschirm, und die Zahlen sind verschwunden.
    »Scheiße!«
    Ich sehe auf, und mein Vater ist verschwunden.
    »Scheiße!«
    Charlie kommt in die Küche gerannt.
    »Du hast ›Scheiße!‹ gesagt«, verkündet er voller Freude, mich zu verpetzen, selbst wenn er mich nur bei mir selbst verpetzen kann.
    »Ich weiß, tut mir leid«, entschuldige ich mich, mein eines Auge noch immer auf den Bildschirm geheftet, während ich hektisch nach irgendeiner Möglichkeit suche, diese ganzen Daten zu retten. Ich muss diesen Bericht zu Ende schreiben.
    »Das ist ein Schimpfwort.«
    »Ich weiß, tut mir leid«, wiederhole ich, während ich alles anklicke, was sich anklicken lässt.
    Ich sehe nicht zu ihm hoch, und ich wünschte, er würde den Wink verstehen. Aber das tut er nie.
    »Mom, du weißt doch, dass ich nicht gut zuhören kann?«
    »Ja. Du treibst mich in den Wahnsinn.«
    »Kann ich deine Ohren haben?«
    »Du kannst eins haben.«
    »Ich will beide.«
    »Eins.«
    »Beide, ich will beide!«
    »Na, meinetwegen!«
    Ich reiße mir die Ohren vom Kopf und werfe sie wie ein Paar Würfel über den Tisch. Charlie befestigt sie wie Kopfhörer über seinen eigenen und legt den Kopf schief, als würde er versuchen, auf irgendetwas in der Ferne zu lauschen. Er lächelt zufrieden. Ich versuche, es auch zu hören, aber dann fällt mir ein, dass ich gar keine Ohren mehr habe. Er sagt etwas und rennt weg.
    »Hey, meine Ohrringe!«
    Aber er ist bereits außer Sichtweite. Ich wende mich wieder meinem Computerbildschirm zu. Wenigstens ist er weg, und ich kann sicher sein, dass ich mich jetzt in aller Ruhe konzentrieren kann.
    Die Haustür geht auf, und Bob steht auf der anderen Seite des Tischs. Als er mich ansieht, hat er eine Mischung aus Traurigkeit und Abscheu in seinen Augen. Er sagt etwas.
    »Ich kann dich nicht hören, Schatz. Ich habe Charlie meine Ohren gegeben.«
    Wieder sagt er etwas.
    »Ich verstehe nicht, was du sagst.«
    Er wirft seine Kuriertasche hin und kniet sich neben mich. Dann klappt er meinen Computerbildschirm zu und packt mich an den Schultern, fast tut er mir weh.
    Er brüllt mich an. Ich kann ihn noch immer nicht hören, aber an seinem eindringlichen Blick und den blauen Adern, die an seinem Hals hervortreten, sehe ich, dass er mich anbrüllt. Was immer er mir zu sagen versucht, er brüllt es in Zeitlupe, damit ich es von seinen Lippen ablesen kann.
    »Mach auf?«
    Ich sehe zur Tür.
    »Ich verstehe nicht.«
    Er brüllt es immer wieder, schüttelt meine Schultern.
    »Wach auf?«
    »Ja!«, brüllt er und hört auf, mich zu schütteln.
    »Ich bin wach.«
    »Nein, das bist du nicht.«
    MONTAG
    Welmont ist ein wohlhabender Vorort von Boston, mit baumgesäumten Straßen, Landschaftsgärten, einem Fahrradweg, der sich durch die Stadt schlängelt, einem privaten Country Club und Golfplatz, einem Zentrum mit Modeboutiquen, Wellnesscentern, einem Gap-Geschäft und Schulen, mit denen jeder prahlt, den besten des Bundesstaates. Bob und ich haben uns für diese Stadt wegen ihrer Nähe zu Boston entschieden, wo wir beide arbeiten, und wegen des erfolgreichen Lebens, das sie verspricht. Wenn irgendwo in Welmont noch ein Haus für unter einer halben Million Dollar zu haben ist, steht mit Sicherheit irgendein
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