Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mehr als nur ein halbes Leben

Mehr als nur ein halbes Leben

Titel: Mehr als nur ein halbes Leben
Autoren: Lisa Genova
Vom Netzwerk:
Standarddosis mütterlicher Schuldgefühle sinkt auf den Grund der Suppe aus kaltem Kaffee und Lucky Charms in meinem Magen. Nicht unbedingt ein Frühstück für Helden.
    »Abby kann bleiben und ihm zusehen«, sage ich, um mich zu beruhigen.
    Abby ist unser Kindermädchen. Sie arbeitet für uns, seit Charlie zwölf Wochen alt war und mein Mutterschaftsurlaub endete. Wir hatten mehr als Glück, sie zu bekommen. Abby war damals zweiundzwanzig, frisch vom College, mit einem Abschluss in Psychologie, und lebte nur zehn Minuten von uns entfernt in Newton. Sie ist klug, gewissenhaft, hat tonnenweise Energie und liebt unsere Kinder.
    Bevor Charlie und Lucy alt genug für die Vorschule waren, hat Abby montags bis freitags von 7.30 Uhr bis 18.30 Uhr auf sie aufgepasst. Sie hat ihre Windeln gewechselt, sie in den Schlaf gewiegt, ihnen Geschichten vorgelesen, ihre Tränen abgetupft, ihnen Spiele und Lieder beigebracht, sie gebadet und gefüttert. Sie hat die Einkäufe erledigt und das Haus geputzt. Sie ist zu einem festen Mitglied unserer Familie geworden. Ich kann mir unser Leben ohne sie nicht vorstellen. Ehrlich gesagt, wenn ich mich entscheiden müsste, entweder Bob oder Abby zu behalten, dann gab es schon Zeiten, wo es mir schwergefallen wäre, Bob zu wählen.
    In diesem Frühjahr hat uns Abby das Unvorstellbare gesagt: Sie würde uns verlassen, um auf dem Boston College ihren Magister in Erziehungswissenschaften zu machen. Wir waren fassungslos und brachen in Panik aus. Wir durften sie nicht verlieren. Daher handelten wir einen Deal aus: Da Charlie und Lucy bereits sieben Stunden täglich zur Schule gingen, wären wir bereit, Linus ab September für dieselbe Anzahl von Stunden in eine Kindertagesstätte zu geben. Das würde heißen, dass wir sie nur nachmittags von 3.00 Uhr bis 18.30 Uhr bräuchten, und wir würden einen Teil ihrer Studiengebühren übernehmen.
    Natürlich hätten wir auch das Internet durchforsten und jemanden finden können, der vermutlich gut und auf jeden Fall billiger gewesen wäre. Oder wir hätten jemanden über eine Kindermädchen-Agentur anheuern können. Aber Abby kennt unsere Kinder bereits. Sie kennt ihre Routinen, ihre Launen, ihre Lieblingssachen. Sie weiß, wie sie mit Charlies hartnäckigen Fragen und Lucys Wutanfällen umgehen soll, und sie vergisst nie – aber auch wirklich nie –, Bunny mitzunehmen, wohin Linus auch geht. Und sie liebt sie bereits. Wie kann man zu viel dafür bezahlen, dass man zweifelsfrei weiß, dass die eigenen Kinder geliebt werden, wenn man selbst nicht da sein kann?
    Charlie galoppiert in die Küche, außer Atem.
    »Wo sind meine Pokémon-Karten?«
    »Charlie, du bist ja noch im Pyjama. Vergiss Pokémon. Geh und zieh dich an«, sage ich.
    »Aber ich brauche meine Pokémon-Karten.«
    »Hose, Hemd, Schuhe, und schalt dein Licht aus«, fordere ich ihn auf.
    Charlie wirft entnervt den Kopf zurück, ergibt sich aber und schießt wieder die Treppe hoch in sein Zimmer.
    »Irgendwas mit dem Haus?«, fragt Bob.
    »Rufst du heute den Typen wegen des Garagentors an?«
    »Ja, er steht schon auf meiner Liste.«
    Unser automatischer Toröffner ist eins der neueren Modelle, und er hat einen visuellen Sensor, der verhindert, dass das Tor zugeht, wenn er registriert, dass irgendetwas unter dem Tor ist, zum Beispiel ein kleines Kind. Theoretisch ist es ein tolles Sicherheitsfeature, trotzdem scheint es uns in den Wahnsinn zu treiben. Eines der Kinder – und wir haben Charlie im Verdacht – schlägt immer wieder auf der rechten Seite gegen das Auge, sodass es nicht auf einer Höhe mit der linken Seite ist und die Kinder nicht sehen kann. Und wenn es schielt, funktioniert es überhaupt nicht.
    Als wir klein waren, spielten mein Bruder Nate und ich mit unserem automatischen Garagentor gern Indiana Jones. Einer von uns drückte auf den Knopf der Fernbedienung, und dann guckten wir, wer sich am längsten zu warten traute, bevor wir losrannten und uns im letzten Augenblick unter dem sich schließenden Tor hindurchrollten. Damals gab es noch keine Sicherheitsfeatures. Dieser Garagentoröffner funktionierte völlig blind. Es hätte uns auch den ganzen Spaß verdorben, wenn das Risiko, zerquetscht oder zumindest schmerzhaft zusammengedrückt zu werden, ausgeschaltet worden wäre. Nate war richtig gut darin, er duckte und rollte sich immer in letzter Sekunde hindurch. Gott, ich vermisse ihn noch immer.
    Charlie stürmt in die Küche, in T-Shirt, Shorts und ohne Schuhe.
    »Mom,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher