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Mehr als nur ein halbes Leben

Mehr als nur ein halbes Leben

Titel: Mehr als nur ein halbes Leben
Autoren: Lisa Genova
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Haargummis und ein Flummi. Lucys Zimmer ist eine Todesfalle. Was, wenn Linus beschlossen hätte, an einer Vierteldollarmünze zu lutschen? Was, wenn ihm eine der größeren orangefarbenen Perlen besonders verlockend erschienen wäre? Was, wenn ich zu spät gekommen wäre? Was, wenn Linus auf dem Boden läge, ohne zu atmen, mit blauen Lippen?
    Wenn Bob meine Gedanken lesen könnte – was er vermutlich kann –, dann würde er mir empfehlen, gar nicht erst daran zu denken. Er würde mir raten, damit aufzuhören, mir das Schlimmste auszumalen, und mich zu entspannen. Alles ist gut. Alle Kinder nehmen Dinge in den Mund, die sie nicht in den Mund nehmen sollten. Sie essen Farbsplitter und Kreide und schlucken Schmutz, Kieselsteine und alle möglichen anderen Dinge, von denen wir nicht einmal etwas ahnen. Sie klettern sogar unbeaufsichtigt Treppen hoch. Kinder sind zäh, würde er sagen. Sie überleben.
    Aber ich weiß es besser. Ich muss mir das Schlimmste nicht ausmalen, um daran zu denken. Ich kann mich daran erinnern. Manchmal überleben die Kinder. Und manchmal tun sie es nicht.
    Als die zutiefst abergläubische, gottesfürchtige, leicht zwangsneurotische Typ-A-Perfektionistin, die ich bin, klopfe ich, die Perle in meiner Faust, an den hölzernen Bettpfosten, danke Gott dafür, dass er Linus behütet hat, und gebe seiner Schwester die Schuld.
    »Lucy, dieses Zimmer ist eine Katastrophe. Du musst diese ganzen Perlen einsammeln.«
    »Aber ich mache eine Kette«, jammert sie.
    »Komm, ich helfe dir, Gänschen«, sagt Bob, jetzt auf den Knien, während er Perlen aufklaubt. »Warum suchst du dir für heute nicht eine von den Ketten aus, die du schon gemacht hast? Und dann kannst du mit mir und Linus nach unten kommen.«
    »Charlie hat sich noch nicht angezogen und noch nicht gefrühstückt«, füge ich mich in die Routine und reiche das elterliche Staffelholz weiter an Bob.
    Nach einer schnellen Dusche stehe ich nackt vor dem großen Spiegel im Schlafzimmer und mustere meinen Körper, während ich mir die Arme und Beine mit Körperlotion eincreme.
    M. Muss sich verbessern.
    Ich liege noch immer ungefähr fünfzehn Pfund über meinem Vor-Linus-Gewicht, das, wenn ich ehrlich sein soll, auch schon zehn Pfund über meinem Vor-Charlie-Gewicht lag. Ich greife mit einer Hand in den schlaffen und runzligen Brotteig, der einmal mein straffer Bauch war, und gleite mit einem Finger über die rostfarbene Linie, die unverblasst ein paar Zentimeter über meinem Bauchnabel beginnt und bis zu meinem Schamhaar verläuft. Dann gleite ich weiter zu den Fettschichten, die meine Hüftknochen polstern. Die Knochen haben sich seitlich verschoben, um Platz für Linus zu schaffen – mein größtes Baby –, sodass ich jetzt breitere Hüften und eine Schublade voller Hosen habe, die ich nicht mehr zuknöpfen kann.
    Das Fitnessstudio, in dem ich Mitglied geworden bin, ließe sich treffender als meine bevorzugte Wohlfahrtsorganisation bezeichnen: Ich gehe nie hin. Ich sollte meine Mitgliedschaft dort wirklich kündigen, anstatt dem Laden im Grunde jeden Monat einhundert Dollar zu spenden. Dann stehen da noch die Fitnessgeräte im Keller, aufgestellt wie Statuen, und sammeln Staub an: der Crosstrainer, die Bowflex und die Rudermaschine, die Bob mir zu Weihnachten geschenkt hat, als ich im achten Monat schwanger war (war er verrückt?). An diesen sperrigen Geräten komme ich jedes Mal vorbei, wenn ich Wäsche wasche – was bei drei Kindern oft der Fall ist. Ich husche immer blitzschnell an ihnen vorbei, ohne sie eines Blickes zu würdigen, als hätten wir irgendeine Art emotional aufgeladene Auseinandersetzung gehabt und ich würde ihnen nun die kalte Schulter zeigen. Es klappt. Sie belästigen mich nie.
    Ich verreibe die restliche Lotion in meinen Händen.
    Sei nicht zu hart zu dir selbst , denke ich, da ich weiß, dass ich dazu neige.
    Linus ist erst neun Monate alt. Der Spruch »neun Monate rauf, neun Monate runter« aus The Girlfriends’ Guide to Getting Your Groove Back schießt mir durch den Kopf. Die Autorin geht davon aus, dass ich Zeit für Dinge wie Maniküre, Shoppen und Verkaufsmodeschauen habe und dass ich meine Figur zu meinem Hauptanliegen gemacht habe. Es ist nicht so, dass ich meine Figur nicht wiederhaben will. Nein, es steht auf meiner Liste. Nur steht es bedauerlicherweise so weit unten, dass ich es kaum noch sehen kann.
    Bevor ich mich anziehe, halte ich einen Moment inne, um mich ein letztes Mal zu mustern. Meine helle
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