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Mehr als nur ein halbes Leben

Mehr als nur ein halbes Leben

Titel: Mehr als nur ein halbes Leben
Autoren: Lisa Genova
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weint er über eine Stunde lang, während Bob und ich wach liegen und das Weinen weniger ignorieren als vielmehr darauf lauschen und nach leichten Veränderungen in der Tonhöhe oder dem Rhythmus suchen, die ein Hinweis darauf sein könnten, dass das Ende naht – ohne dergleichen je zu finden.
    Eines der beiden anderen Kinder, meistens Lucy, klopft dann schließlich an unsere Tür und kommt herein.
    »Linus weint.«
    »Das wissen wir, Schatz.«
    »Kann ich ein Glas Milch haben?«
    Jetzt bin ich auf, um mit Lucy zusammen ihre Milch zu holen, und Bob ist auf, um Linus zu beruhigen. Plan vereitelt. Baby siegt. Punktestand: Eltern mit MBA-Abschluss in Harvard, beide in hohem Maße verhandlungssicher und führungsstark: null. Neun Monate altes Baby ohne ordentliche Schulbildung oder Erfahrung auf dem Planeten: zu viele für mein erschöpftes Gehirn, um noch mitzuzählen.
    Sobald er angezogen und von dem verhassten Wickeltisch gehoben wurde, herrscht bei Linus augenblicklich wieder eitel Sonnenschein. Kein Schmollen, kein Nachtragen, nur Leben für den Augenblick. Ich gebe meinem kleinen Buddha einen Kuss, drücke ihn an mich und trage ihn nach unten. Charlie und Lucy sind schon auf. Ich kann Lucy in ihrem Zimmer herumlaufen hören, und Charlie liegt auf einem der Bohnensacksessel im Wohnzimmer und sieht sich SpongeBob Schwammkopf an.
    »Charlie, es ist zu früh zum Fernsehen. Schalt das aus.«
    Aber er ist völlig gefesselt und hört mich nicht. Zumindest hoffe ich, dass er mich nicht hört und nicht absichtlich auf Durchzug schaltet.
    Lucy kommt aus ihrem Zimmer, angezogen wie eine Verrückte.
    »Wie findest du meinen Stil, Mom?«
    Sie trägt eine rosa-weiß getupfte Weste über einem langärmeligen orangefarbenen T-Shirt und Samtleggings mit Leopardenmuster unter einem hauchdünnen rosa Ballettröckchen, dazu Ugg-Boots und sechs Spangen, die wahllos in ihrem Haar befestigt sind, alle in unterschiedlichen Farben.
    »Du siehst fabelhaft aus, Schatz.«
    »Ich habe Hunger.«
    »Na, dann komm mit.«
    Wir gehen in die Küche, und Lucy klettert auf einen der Barhocker am Tresen der Kücheninsel. Ich fülle zwei Schälchen mit Frühstückscerealien, eins für Lucy und eines für Charlie, und ein Fläschchen mit Babymilch für Linus.
    Ja, meine Kinder sind Peanuts-Figuren. Charlie, sieben, und Lucy, fünf, bekamen ihre Namen, ohne dass wir an den Comic dachten oder uns darauf bezogen. Charlie wurde nach Bobs Vater benannt, und der Name Lucy gefiel uns beiden einfach. Dann, als ich wider Erwarten noch ein Kind erwartete – Jahre nachdem wir jedes Stück Babyausstattung gespendet oder bei eBay versteigert hatten, Jahre nachdem wir das Ende der Windeln und Kinderwagen und Barney-Figuren gefeiert hatten –, mussten wir uns wieder einen Namen einfallen lassen und waren ratlos.
    »Ich bin für Schroeder«, schlug ein Arbeitskollege vor.
    »Nein, auf jeden Fall Linus. Oder Woodstock«, sagte ein anderer.
    Erst in dem Augenblick wurde mir das Muster bewusst, das wir mit unseren ersten beiden Kindern begonnen hatten. Und der Name Linus gefiel mir.
    Ich gebe Linus sein Fläschchen, während ich zusehe, wie Lucy die ganzen bunten Marshmallows, die »Charms«, zuerst isst.
    »Charlie, komm schon!! Dein Müsli wird matschig!«
    Lucy isst noch zwei Löffel Charms.
    »Charlie!«
    »Okay, okay.«
    Charlie stemmt sich auf den Hocker neben Lucy hoch und sieht auf sein Schälchen, als wäre es die schlimmste Hausaufgabe aller Zeiten.
    »Ich bin müde«, seufzt er.
    »Warum bist du denn dann auf? Geh wieder ins Bett.«
    »Okay«, sagt er und geht wieder hoch in sein Zimmer.
    Lucy trinkt die Milch aus ihrem Schälchen, wischt sich mit dem Ärmel den Mund ab, hüpft herunter und verschwindet, ohne ein Wort zu sagen. Hastig, um endlich frei zu sein wie seine Schwester, trinkt Linus sein Fläschchen aus und macht dann ohne jede Hilfe ein Bäuerchen. Ich setze ihn auf dem Boden ab, der mit Spielzeug und Krümeln von Goldfisch-Crackern übersät ist. Ich schnappe mir einen Ball und werfe ihn ins Wohnzimmer.
    »Na los, hol den Ball!«
    Begeistert darüber, dass man mit ihm spielt, krabbelt er dem Ball hinterher wie ein verspielter junger Hund.
    Wenigstens für einen Moment allein, esse ich Charlies nicht angerührtes matschiges Müsli – denn einer muss es ja tun –, dann trage ich das ganze Geschirr zur Spüle, wische den Tresen ab, setze Kaffee auf, packe Brotdosen und Snacks für Charlie und Lucy und die Windeltasche für Linus. Ich
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