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Mehr als nur ein halbes Leben

Mehr als nur ein halbes Leben

Titel: Mehr als nur ein halbes Leben
Autoren: Lisa Genova
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Haut ist mit Sommersprossen übersät, dank meiner schottischen Mutter. Als kleines Mädchen habe ich die Sommersprossen immer durch eine Linie miteinander verbunden, um Sternbilder und Tätowierungen zu zeichnen. Mein Lieblingsbild war immer der perfekte fünfzackige Stern, den die Sommersprossen auf meinem linken Oberschenkel bilden. Aber das war damals in den Achtzigerjahren, bevor ich irgendetwas über Sonnenschutz wusste, damals, als ich und all meine Freundinnen Babyöl-Flaschen zum Strand schleppten und wir uns im wahrsten Sinne des Wortes in der Sonne brutzeln ließen. Jetzt sagen die Ärzte und die Medien alle, dass meine Sommersprossen Altersflecken und Zeichen für Sonnenschäden sind.
    Ich verberge den Großteil dieser Schäden mithilfe eines weißen Mieders und meines schwarzen Power-Hosenanzugs von Elie Tahari. Im besten Sinne fühle ich mich in diesem Hosenanzug wie ein Mann. Perfekt für die Art von Tag, die mir bevorsteht. Ich reibe mein Haar mit dem Handtuch trocken und verteile einen Klecks Glanz-und-Halt-Haargel darin. Rotbraun, dicht und gewellt bis zu den Schultern, ist an meinem Haar nichts Maskulines. Vielleicht bin ich dick, sommersprossig und wie ein Mann angezogen, aber ich liebe mein hübsches Haar.
    Ich trage rasch etwas Grundierungscreme, Rouge, Eyeliner und Wimperntusche auf, dann gehe ich nach unten und stürze mich wieder ins Getümmel. Lucy lümmelt jetzt auf einem der Bohnensacksessel herum und singt zu Dora the Explorer mit, Linus steckt neben ihr in seinem Pack-’n’-Play-Laufstall und nuckelt am Kopf eines Plastik-Schulbusfahrers. In der Küche sitzt Bob allein am Tisch, trinkt Kaffee aus seinem Harvard-Becher und liest das Wall Street Journal .
    »Wo ist Charlie?«, frage ich.
    »Zieht sich an.«
    »Hat er gefrühstückt?«
    »Müsli und Saft.«
    Wie schafft er das bloß? Bob mit allen drei Kindern unter seiner Aufsicht ist eine völlig andere Geschichte als Sarah mit allen drei Kindern unter ihrer Aufsicht. Bei Bob sind sie gern bereit, sich eine Weile selbst zu beschäftigen, und lassen ihn in Frieden, bis er mit einer neuen Aktivität im Angebot auf sie zukommt. Ich hingegen besitze so viel Anziehungskraft wie ein Lieblingsrockstar ohne seine Bodyguards: Sie haben mich im Griff. Ein typisches Beispiel: Linus kauert zu meinen Füßen, quengelt und bettelt darum, auf den Arm genommen zu werden, während Lucy aus einem anderen Zimmer »Mom, ich brauche Hilfe!« brüllt und Charlie mir fünftausend hartnäckige Fragen darüber stellt, was mit dem Müll geschieht.
    Ich schnappe mir meinen Becher und setze mich Bob gegenüber an den Tisch für unsere Frühbesprechung. Ich nehme einen Schluck Kaffee. Er ist kalt. Egal.
    »Hast du die Nachricht von Charlies Lehrerin gesehen?«, frage ich.
    »Nein, was ist denn?«
    »Seine Lehrerin will mit uns über sein Zeugnis reden.«
    »Gut, ich will wissen, was da los ist.«
    Er greift in seine Kuriertasche und zückt sein iPhone.
    »Meinst du, sie kann sich vor dem Unterricht mit uns treffen?«, fragt er.
    Ich schnappe mir meinen Laptop vom Küchentresen und setze mich wieder.
    »Ich könnte am Mittwoch und Freitag früh, vielleicht auch am Donnerstag, wenn ich etwas verschiebe«, erwidere ich.
    »Ich kann am Donnerstag. Hast du ihre E-Mail-Adresse?«
    »Ja.«
    Rasch schicke ich Ms. Gavin eine Mail.
    »Gehst du heute zu seinem Spiel?«, fragt er.
    »Nein, du?«
    »Ich werde vermutlich nicht rechtzeitig zurück sein, vergessen?«
    »Ach ja. Ich kann auch nicht, mein Tag ist randvoll.«
    »Okay. Ich wünschte nur, einer von uns könnte da sein, um ihn zu sehen.«
    »Ich auch, Schatz.«
    Ich glaube, dass er es wirklich aufrichtig meint, aber ich kann nicht umhin, seine Worte »Ich wünschte nur, einer von uns« zu nehmen und in Gedanken in ein »Ich wünschte, du« zu übersetzen. Und während das Getriebe meines inneren Dolmetschers geölt wird, verwandelt es »könnte« in »sollte«. Die meisten Frauen in Welmont mit Kindern in Charlies Alter verpassen nie ein Fußballspiel und verdienen sich keinen speziellen Gute-Mutter-Status dafür, dass sie dort sind. Gute Mütter tun das einfach. Dieselben Mütter bejubeln es als außergewöhnliches Ereignis, wenn einer der Dads früher aus dem Büro kommt, um ein Spiel zu sehen. Die Väter, die am Spielfeldrand stehen und anfeuern, werden als tolle Dads gefeiert. Väter, die die Spiele verpassen, arbeiten. Mütter, die die Spiele verpassen – so wie ich –, sind schlechte Mütter.
    Eine
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