Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mehr als nur ein halbes Leben

Mehr als nur ein halbes Leben

Titel: Mehr als nur ein halbes Leben
Autoren: Lisa Genova
Vom Netzwerk:
halb vier, und ich habe eine halbe Stunde frei bis zu meiner nächsten Besprechung – die erste Lücke des Tages. Ich beginne, den Salat mit Hühnchen zu essen, den mir meine Assistentin zum Mittagessen bestellt hat, während ich das Büro in Seattle zurückrufe. Während ich Salat kaue und das Telefon klingelt, beginne ich, die E-Mails zu überfliegen, die sich in meinem Posteingang angesammelt haben. Der Geschäftsführer nimmt ab und bittet mich um ein Brainstorming. Es geht darum, welcher unserer viertausend Berater verfügbar und am besten geeignet sein könnte für ein Informationstechnologie-Projekt, das nächste Woche hereinkommt. Ich unterhalte mich mit ihm, während ich abwechselnd Antworten auf ein paar E-Mails aus England zu Leistungsbeurteilungen tippe und meinen Salat esse.
    Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wann ich gelernt habe, zwei völlig verschiedene berufliche Gespräche auf einmal zu führen. Doch ich tue es schon lange, und ich weiß, dass es keine gewöhnliche Kunst ist, nicht einmal für eine Frau. Außerdem habe ich gelernt, geräuschlos zu tippen und zu klicken, sodass die Person am anderen Ende der Leitung nicht abgelenkt wird oder – noch schlimmer – beleidigt ist. Und ehrlich gesagt entscheide ich mich immer, nur diejenigen E-Mails zu beantworten, die meinen Geist nicht fordern, die nur mein Ja oder Nein erfordern, während ich telefoniere. Es kommt mir ein bisschen so vor, als hätte ich eine gespaltene Persönlichkeit: Sarah spricht am Telefon, während ihr verrücktes Alter Ego tippt. Immerhin arbeiten wir beide als ein Team.
    Ich bin Vizepräsidentin der Personalabteilung bei Berkley Consulting. Berkley hat ungefähr fünftausend Angestellte in siebzig Büros in vierzig Ländern. Wir bieten strategische Beratung für Unternehmen weltweit und in allen Branchen – wir sagen ihnen, wie sie innovieren, konkurrieren, restrukturieren, führen, vermarkten, fusionieren, wachsen, sich behaupten und vor allem Geld machen sollen. Die meisten Berater, die für uns arbeiten, haben einen Abschluss in Betriebswirtschaft, aber es sind auch viele Naturwissenschaftler, Anwälte, Ingenieure und Ärzte darunter. Sie sind alle hochintelligent, wissen, wie man analytisch denkt, und verstehen es hervorragend, kreative Lösungen für komplexe Probleme zu finden.
    Und sie sind überwiegend jung. Berater bei Berkley arbeiten typischerweise dort, wo der Kunde ist. Die Berater für ein beliebiges Projekt können ihren festen Arbeitsplatz irgendwo auf der Welt haben, aber wenn der Kunde ein Pharmaunternehmen in New Jersey ist, dann ist das der Ort, an dem das Berater-Team für die Dauer des Projekts wohnt. Das heißt, ein Berater aus unserem Büro in London, der aufgrund seiner medizinischen Erfahrung für dieses Projekt eingesetzt wird, wohnt zwölf Wochen lang von Montag bis Donnerstag in einem Hotel in Newark.
    Dieser Lebensstil ist machbar für diejenigen, die jung und alleinstehend sind, und eine Zeitlang sogar für diejenigen, die jung und verheiratet sind, aber ein paar Jahre und ein paar Kinder später sieht man mit diesem Leben aus dem Koffer schnell alt aus. Die Burn-out-Quote ist hoch. Dieser arme Kerl aus London wird seine Frau und seine Kinder vermissen. In dem Versuch, ihn zu halten, kann Berkley ihm immer mehr Geld nachwerfen, aber irgendwann ist selbst das für die meisten Leute nicht mehr genug, um den Tribut wettzumachen, den dieser Job von den Familien fordert. Die wenigen Berater, die länger als fünf Jahre durchhalten, werden Geschäftsführer. Jeder, der nach zehn Jahren noch dabei ist, wird Partner und folglich äußerst vermögend. Fast alle sind Männer. Und geschieden.
    Ich kam zu Berkley mit Berufserfahrung im Bereich Personalwesen und einem Harvard-MBA, der idealen Mischung aus Theorie und Praxis. Mein Job bringt lange Arbeitszeiten mit sich – siebzig bis achtzig Wochenstunden –, aber ich muss nicht so viel reisen wie die nomadenhaften Berater. Ich fliege alle acht Wochen nach Europa, einmal im Vierteljahr nach China und ein- oder zweimal im Monat für eine Übernachtung nach New York, aber diese ganzen Reisen sind berechenbar, begrenzt und überschaubar.
    Meine Assistentin Jessica klopft und kommt mit einem Blatt Papier, auf dem Kaffee? steht, in mein Büro.
    Ich nicke und halte drei Finger hoch, was einen dreifachen Espresso, nicht drei Kaffees, bedeutet. Jessica versteht meine Zeichensprache und verschwindet mit meiner Bestellung.
    Ich leite bei Berkley die
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher