Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Meerhexe

Meerhexe

Titel: Meerhexe
Autoren: Irma Krauss
Vom Netzwerk:
und über Ulrichs beschissener Verlobung habe ich ganz den gestrigen Telefonterror vergessen.
    Er fällt mir wieder ein, als ich schlecht gelaunt und erschöpft zu Hause ankomme. Das Telefon hat die halbe Nacht geläutet. Aber immer nur einmal - und wieder weg. So ungefähr alle zehn Minuten. Wenn mein Vater oder ich rechtzeitig rankamen, hat sich niemand gemeldet. Meine Mutter hat es gar nicht erst versucht. Es war zum Ausrasten. Mein Vater wollte die Störstelle oder die Polizei anrufen, meine Mutter einfach den Hörer aushängen. Sie haben sich vor dem Schlafengehen dann auf etwas anderes geeinigt.
    »Wenn irgendein Idiot dieses Spiel die ganze Nacht treiben will«, hat mein Vater gesagt, »bitte, dann soll er das. Es sind sein Problem und seine Zeit. Viel Vergnügen wünsch ich ihm. Wir gehen jetzt ins Bett.« Er hat den Apparat ins Wohnzimmer gestellt und die Tür zugemacht.
    Weil ich wegen der bevorstehenden Generalprobe etwas aufgedreht war, konnte ich nicht gleich einschlafen. Ich hörte es noch ein paar Mal von fern läuten. Tuuuut - weg. Alle zehn Minuten.
    Am Morgen war dann Ruhe. Aber mein Vater regte sich noch immer darüber auf und meine Mutter guckte übermüdet und gestresst drein. Ich dachte ans Musical.
    »Wenn es wieder losgeht«, sagte mein Vater, »dann rufst du doch die Polizei an, ja?«
    Meine Mutter bewegte unschlüssig die Schultern. Sie sei wahrscheinlich gar nicht zu Hause. Sie habe eben Lust bekommen, zu Isabelle zu fahren, sagte sie. Ihr schwirre der Kopf vom vielen Üben und ein freier Tag würde ihr mal guttun.
    Dann sah sie mich an, als fiele es ihr in letzter Sekunde ein: »Viel Glück für die Generalprobe, Madeleine! Ich drück dir ganz fest die Daumen!«
    »Danke«, sagte ich. »Schaden kann’s ja nicht.«
    Jetzt, wie ich aus der Schule komme, empfängt mich das Läuten des Misttelefons schon an der Haustür. Ich stürze hin - nichts mehr. Ich suche mir was zu essen und lasse mich dabei nicht stören. Es klingelt insgesamt dreimal, regelmäßig alle zehn Minuten. Als ich satt bin, stelle ich das Telefon neben mich, knirsche mit den Zähnen und wache mit der Hand über dem Hörer. Tuu …
    Ich packe den Hörer und reiße ihn ans Ohr. »Pass mal auf, du blöder Arsch!«, brülle ich. »Du kannst gerne so weitermachen. Ich nehme jedes Mal ab, dann kostet’s dich eine Einheit. Ist das klar?«
    Eine verstörte weibliche Stimme fragt mich, ob sie mit Alicia verbunden sei.
    »Hä?«, sage ich. »Äh, nein, ich … ich bin Madeleine, die Tochter.«
    Die Stimme lässt sich etwas Zeit. Sie wolle meine Mutter sprechen, bitte. Verwundert, gekränkt, unterkühlt.
    »Meine Mutter ist nicht da«, sage ich steif. Ich überlege, ob die Stimme für den Terror verantwortlich sein könnte.
    Aber das ist sie wohl nicht. Denn sie gehört Mutters Agentin, wie ich jetzt erfahre. Sie klingt auf einmal aufgeregt, konfus und sehr, sehr drängend. Meine Mutter solle bitte sofort zurückrufen, sobald sie nach Hause komme. Unbedingt, und ich dürfe es ja nicht vergessen! Da sei nämlich ein sehr merkwürdiger Brief von meiner Mutter eingegangen, der dringend einer Erklärung bedürfe. Ob ich es auch wirklich notiert habe?
    »Ja«, sage ich folgsam und kritzle was auf den Block.
    Die Stimme beendet das Gespräch nur zögernd. Als könne ich in der Angelegenheit vielleicht einen plötzlichen Geistesblitz haben, auf den es sich zu warten lohnt.
    Kaum ist das Gespräch vorbei, da tutet es schon wieder. Einmal. Ich bin nicht schnell genug. Verdammt!
    Ich nehme mir vor, über dem Hörer zu lauern. Aber dann denke ich, dass es wieder die Agentur sein könnte. Und die will ich kein zweites Mal mit einer Schimpftirade schockieren. Ich stelle den Apparat ins Wohnzimmer. Immer wenn es von fern läutet, kommt ein böses Lächeln auf meine Lippen. Dem Typ geschieht es recht, dass sich niemand hier ärgert!

    Mein Vater bringt Steaks mit. Das hebt meine Laune vorübergehend. Ich helfe ihm beim Gemüseputzen und erzähle ihm, wie die Generalprobe war. Die Pannen schildere ich in allen Einzelheiten. Die Verlobung erwähne ich nur kurz. Aber gerade bei diesem Detail verweilt mein Vater. Er freut sich sehr für Ulrich Falkenhauser und findet, dass so ein engagierter Musiklehrer ein talentiertes Mädchen verdient hat.
    »Die zwei passen ja perfekt zusammen«, sagt er. »Wetten, die machen noch mehr Musicals?«
    Ich zucke mit den Schultern. Ich passe auch perfekt zu Ulrich, später mal, wenn ich eine berühmte Sängerin bin.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher