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Meerhexe

Meerhexe

Titel: Meerhexe
Autoren: Irma Krauss
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die Lippen. Dahinter sagt sie mühsam: »Du hast das Telefon doch läuten hören, oder? Hundert Mal bestimmt. Es war vermutlich der letzte Protest oder so was.«
    Ich schaue sie mit großen Augen an, mit riesengroßen. Ken war das! Er ließ Tag und Nacht bei uns das Telefon läuten! O mein Gott, das ist ja der Hammer!
    Ich blinzle und schaue dann hinunter auf mein Steak.
    Hundert Mal hat Ken Mama rebellisch und verzweifelt angerufen und vielleicht geglaubt, er kann sie damit mürbe machen. Und sie hat es geschafft und ist nicht rangegangen! (Wenn Ulrich mich nur ein einziges Mal anrufen würde!)
    Ehe ich vor Ehrfurcht erstarre, kommt mir allerdings der Gedanke, dass meine Mutter heute vielleicht doch schwach geworden wäre. Deswegen ist sie aus dem Haus geflohen! Sie hat sich mit Isabelle einen schönen Tag gemacht (dass der wirklich schön war, bezweifle ich), während Ken von New York aus, wo er um diese Zeit eigentlich hätte schlafen sollen, seinen Protest fortgesetzt hat.
    Ich stelle mir vor, wie er im Augenblick über dem Telefon hängt, eingeschlafen vor Erschöpfung. Noch nie zuvor hat mir Ken leidgetan. Aber jetzt doch.
    Wir schweigen alle. Das Steak erhält mehr Aufmerksamkeit, als einem Steak zusteht. Das Gemüse auch und die Kartoffeln.
    Wir schauen uns nicht an. Als hätte jeder Angst, aus seinen Augen könnte plötzlich Feuer schlagen. Niemand versucht, Konversation zu machen. Wir verdauen einen schweren Brocken. Und jeder für sich ganz allein.
    Nach einer Weile bekomme ich das Gefühl, dass sich die Erde tatsächlich weiterdreht. Sie rotiert ja immer, wie man weiß, aber normalerweise kann man es nicht spüren. Wenn man es doch spürt, wird einem echt schwindlig. Zuerst vor Erleichterung - und danach von den irrsten Gedanken.
    Also … wenn ich Ken einen netten Brief schreiben würde, sozusagen um ihn zu trösten und um ihm zu zeigen, dass die Familie ihn nicht hasst und ihm nichts nachträgt … wenn Ken mir antworten würde … wenn sich daraus eine Brieffreundschaft entwickelt … wenn ich ihm von meinen Gesangsstunden und von meinen Fortschritten erzähle … wenn ich ihm eine Kassette schicke … wenn er mich dann aber richtig hören will … wenn wir uns sehen und er vorschlägt, dass wir zusammen singen könnten, Duette … wenn er noch immer schlank ist und seinen süßen englischen Akzent hat...
    Ach, alles im Leben ist möglich! Alles ist möglich! Gut, dass ich mich noch nicht entscheiden muss, für keinen und für gar nichts.
    Und besonders gut im Moment, dass meine Eltern nicht die Gabe des Gedankenlesens besitzen. Es wäre mir ausgesprochen peinlich.

cbt - C. Bertelsmann Taschenbuch
Der Taschenbuchverlag für Jugendliche
Verlagsgruppe Random House
    Verlagsgruppe Random House

    1. Auflage
Erstmals als cbt Taschenbuch November 2007
Gesetzt nach den Regeln der
Rechtschreibreform
    © 2007 cbt/cbj Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH
    Erstmals erschienen 2001 bei Beltz & Gelberg
in der Verlagsgruppe Beltz, Weinheim/Basel/
Berlin
SK · Herstellung: CZ
Pößneck
    eISBN : 978-3-641-01635-7

    www.cbj-verlag.de
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