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Meerhexe

Meerhexe

Titel: Meerhexe
Autoren: Irma Krauss
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Klavierspielen wieder aufgehört habe - unter anderem.
    Ich stehe in der offenen Tür und verstecke meine Wurstfinger unter dem Hemd. Dort ist Platz, es ist ein Hemd von meinem Vater. Oma hat die Manschetten abgeschnitten. Nicht ohne zu jammern: »Muss das wirklich sein? Es gibt so schöne Sachen für Mädchen! Und nur weil du glaubst, dass du zu dick bist...«
    »Dann mach ich’s eben selbst«, hab ich gedroht. »Und du bist schuld, Oma, wenn ich ausgefranst rumlaufe. Einen Saum nähen kann ich nicht.« Seitdem habe ich noch zwei weitere Hemden meines Vaters ins Auge gefasst. Die muss ich Oma demnächst bringen.
    Meine Mutter spürt, dass jemand da ist. Sie guckt sich während des Spiels um, lächelt ein bisschen und bringt das Stück zu Ende. Danach fährt sie sich mit ihren schlanken Fingern durchs Haar und streckt den Rücken durch.
    »Komm, Madeleine«, sagt sie. »Ich hab sowieso eine Pause nötig.« Niemand spricht meinen französischen Namen geschmeidiger aus als sie. Dazu klopft sie neben sich auf die Klavierbank.
    Da mag ich aber nicht sitzen, jedenfalls nicht so dicht bei meiner Mutter. Ich nehme ihr irgendwas übel. Ja, genau, ich finde es ungerecht, dass sie mit fünfunddreißig, wo das gar nicht mehr wichtig ist, die Figur hat, die ich haben sollte.
    »Wollte nur sagen, dass ich einkaufen gehe«, gebe ich forsch von mir.
    »Was brauchst du denn?« Meine Mutter versucht, interessiert zu klingen.
    »Einen Tschador«, murmle ich.
    »Wie?« Sie reißt die Augen auf.
    Ich grinse. »Hab mich versprochen. Einen Badeanzug.«
    »Das mag ich an dir, deinen Witz«, sagt sie anerkennend. Lieber würde ich hören, dass ich doch wirklich nichts unter einem Tschador zu verbergen hätte, bei meiner Figur. Meine Mutter verkneift sich aber die Lüge und rät mir zu einem sportlichen Teil.
    »Du weißt schon«, sagt sie, »wie bei den Profischwimmerinnen. Bist ja auch fast eine.«
    Aha. Ein solcher Badeanzug kommt einem Tschador so nahe wie nur möglich. Da reißt das Kompliment auch nichts mehr raus.
    »Mal sehen, was ich finde«, sage ich mutlos. Eine normale Mutter würde mir dabei helfen, sie würde sich wirklich dafür interessieren, wie ihre Tochter aussieht.
    »Wenn ich nicht die Tournee vor mir hätte…«, meint sie vage.
    Sie hat immer eine Tournee vor sich. Eigentlich ist sie eine Rabenmutter.
    »Vielleicht kauf ich mir lieber einen Bikini«, sage ich lauernd.
    »Oh?« Meine Mutter zieht die Stirn in Falten. Sie muss auf einmal was in ihren Noten suchen und murmelt dabei: »Probier doch einfach alles an. Du wirst schon sehen, was dir steht. Warum nimmst du nicht Britta mit?«
    Immerhin macht sie sich Sorgen. Und immerhin kennt sie den Namen meiner besten Freundin. Das ist wahrscheinlich das Höchste, was man von einer Frau verlangen kann, die total auf Klaviertasten abgefahren ist. Erbittert stapfe ich davon.
    »Madeleine?«
    »Ja?«
    »Das Hemd, das du anhast - kenne ich das von irgendwoher?«
    »Allerdings«, gebe ich zurück.
    »Aber gekauft hab ich es dir nicht?«
    »Mir nicht.« Damit lasse ich sie ratlos sitzen, wie mir ein letzter Blick zeigt.
    Es sollte mich ja eigentlich zufrieden stellen, dass sie über ihren Tasten auch das vergessen hat. Sie hat das Hemd letzten Sommer meinem Vater von ihrer Italien-Tournee mitgebracht. Hintendrauf ist eine kleine Insel mit einer Palme. Darunter steht: Meet me here. Jeder Trottel weiß, was Meet me here heißt und dass es eine süße, kleine Einladung ist. Und ein Versprechen, mal Zeit für meinen Vater zu haben. Aber meine Mutter hat das Hemd wahrscheinlich nur wegen der leuchtend blauen Farbe gekauft.
    Wenn ich es recht bedenke, muss es für meinen Vater eine Wohltat sein, dass ich ihn von dem Hemd befreit habe. Und von einem leeren Versprechen. Außerdem hat er unzählige solcher Dinger; das hier hab ich seit einem Dreivierteljahr nicht mehr an ihm gesehen. Er denkt schon längst nicht mehr dran, genau wie meine Mutter.
    »Madeleine? Brauchst du Geld für den Badeanzug?«
    »Ich kann’s auslegen!«, rufe ich zurück.
    »Gut.« Meine Mutter atmet tief ein. Ein paar Sekunden später kommt ein perlender Lauf aus dem Flügel. Er fegt uns weg, mich und den Badeanzug und alles andere auch.

    So ist das mit meiner Mutter. Sie findet übrigens auch, dass es das Schicksal gut mit mir gemeint hat. Nämlich weil es mir keine überbehütende Mutter gegeben hat. Eine überbehütende Mutter ist eine, die sich ständig um ihr Kind kümmert. Und das soll ziemlich lästig sein.
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