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Meerhexe

Meerhexe

Titel: Meerhexe
Autoren: Irma Krauss
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Für das Kind. Meine Mutter war mal ein solches Kind und sie hat das gehasst. Ihre Mutter ist extra nicht arbeiten gegangen, damit sie immer für ihr Kind da sein konnte, beim Klavierüben, beim Lernen und bei allem. Als ihr Kind eine fertige Künstlerin war, hatte meine Oma nichts mehr zu tun und kriegte die Krise. Sie stürzte sich Hals über Kopf in einen Beruf und wurde Antiquitätenhändlerin. Seitdem besucht sie Auktionen und Flohmärkte, und man weiß oft nicht, wo sie ist. Opa führt derweil den Laden und wartet auf die Sachen, die Oma von ihren Einkaufsreisen mitbringt. Vorher war Opa Buchhalter oder so was. Ich sehe die beiden so gut wie nie, was ich bedauere. Sie wohnen in Kiel, das ist leider genau am anderen Ende Deutschlands.
    Neben meinen abwesenden Kieler Großeltern habe ich hier zum Glück eine Oma zum Anfassen. Dazu muss ich nur zwei S-Bahnstationen weiter rausfahren.
    Das mache ich, nachdem es mir geglückt ist, einen einigermaßen passenden Badeanzug zu ergattern. Schwarz, aber nicht mal so schlecht.
    »Ziehst du gar nichts anderes mehr an?«, begrüßt mich Oma an der Tür. Sie zupft an meinem Hemd herum.
    »Es stinkt noch nicht«, verteidige ich das Hemd und mich. »Nur nach Deo.« Sie schnüffelt liebevoll an mir. »Komm rein, Lenchen.«
    »Du hast keine Schüler mehr?«, vergewissere ich mich.
    Oma dreht sich halb nach mir um. »Den letzten. Wir sind gleich fertig. Wenn du willst, kannst du die fünf Minuten noch zuhören.«
    Bevor mir ein »Nein, danke« rausrutscht, sehe ich die fremden Turnschuhe im Flur. Größe vierzig, schätze ich. Was bedeutet, dass es sich bei dem Schüler nicht um einen kleinen Jungen handelt. Ich folge Oma ins Klavierzimmer.
    Beißender Schweißgeruch empfängt uns. Oma merkt es auch. Sie sagt freundlich: »Ich habe Besuch bekommen, Torsten. Meine Enkelin Madeleine. Wenn es dir recht ist, hängen wir die fünf Minuten nächstes Mal dran.«
    Torsten hat nichts dagegen. Rasch nimmt er seine Noten und steht auf. Dabei klappt er die Augendeckel runter und ringelt gleichzeitig die Zehen ein. Ist ihm mein Anblick so peinlich?
    »Hallo«, hüstle ich und werde rot, weil er wirklich gut aussieht. Der Geruch stammt sicher nicht von ihm, sondern hat sich nur den Nachmittag lang angesammelt.
    Oma öffnet die Glastür zu ihrem kleinen Garten. »Madeleine, bringst du Torsten zur Tür?« Sie tritt ins Grüne hinaus und holt tief Atem. Bestimmt reicht es ihr für heute.
    Torsten huscht vor mir her in den Flur. Er hat die Zehen jetzt begradigt, aber gesagt hat er nichts. Während er mit seinen Schuhen kämpft, mache ich verlegen Konversation. »Spielst du schon lange Klavier?«
    Er schaut nicht auf. »Vier Jahre«, murmelt er. Der Duft ist im Zimmer geblieben, Torsten war es wirklich nicht.
    »Macht’s dir Spaß?«, will ich wissen. Dabei beäuge ich mit Herzklopfen seinen Nacken, wo sich die Haare ein wenig und ganz bezaubernd kräuseln.
    »Hmm … ja, manchmal.« Er ist jetzt fertig. Wenn er richtig aufschauen würde, könnte er das Einzige sehen, was an mir schön ist, meine grünen Augen. So aber bemerkt er höchstens meine dicken Oberschenkel.
    Ich hätte statt der hässlichen Jeans lieber einen langen Rock... - zu spät. Das Hemd meines Vaters reicht leider nicht bis zu den Knien, denn Oma hat, als sie schon mal dabei war, nicht nur die Manschetten abgeschnitten.
    An der Tür kriege ich endlich einen verhuschten Blick von Torsten. »Tschüs.« Und weg ist er.
    Ich setze mich zu Oma in den Garten, um so viel wie möglich über ihn rauszufinden. Das ist nicht weiter schwierig. Wir haben schon oft über ihre Schüler gesprochen, und Oma erzählt mir immer bereitwillig, was ich wissen möchte.
    Nach ein paar Minuten kenne ich seinen vollen Namen (Torsten Liebig), sein Alter (fünfzehn), sein Talent (mittelmäßig), und ich weiß, dass er nur drei Straßen weiter wohnt und unheimlich schüchtern ist. Das Letzte baut mich auf: Aus Schüchternheit hat er mich nicht angucken können!
    Oma und ich trinken Limo. Ich nehme den neuen Badeanzug aus der Tüte und zeige ihn ihr.
    »Zieh ihn doch an«, schlägt sie vor. »Wenn er an deinem Finger hängt, ist er lappig, und ich kann gar nichts erkennen.«
    Aber ich rede mich raus. Dass es zu heiß ist zum Umziehen und dass ich zu faul bin. In Wirklichkeit möchte ich nicht mal vor meiner Oma im Badeanzug dastehen. Mit mir drin würde der alles andere als lappig aussehen.
    Oma hebt bedauernd die Hände und steht auf. »Ich mach jetzt
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