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Meerhexe

Meerhexe

Titel: Meerhexe
Autoren: Irma Krauss
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geht nicht. »Ist das neuerdings deine Pinnwand?«, sagt sie und versucht, die Schmierzettel auf meinem Spiegel zu lesen.
    »Nein, mein Papierkorb. Aber bei meiner Mutter ist noch ein Spiegel und im Bad haben wir auch einen.«
    »Dann geh ich ins Bad«, sagt Britta.
    Ich, wenn ich mit zwei gelben Streifchen bekleidet wäre, würde die Tür sehr vorsichtig öffnen und erst mal rausäugen, ob die Luft rein ist. Nicht so Britta. Sie marschiert frei und fröhlich zum Bad. Die Tür ist abgeschlossen.
    »Oh«, sagt Britta und wartet. Ich frage mich zum x-ten Mal, wie verrückt ich eigentlich bin. Muss ich mir ausgerechnet so ein hübsches Mädchen zur Freundin aussuchen? Aber ich mag sie sehr und bin nur selten ein bisschen neidisch. Sie gibt mit ihrem guten Aussehen überhaupt nicht an, sie hat es eben, basta. Sie ist außerdem nett und zieht niemanden durch den Kakao.
    Und eine weitere gute Eigenschaft von ihr ist, dass sie ein Problem mit Ulrich Falkenhauser hat. Weil sie nämlich beim Singen keinen einzigen Ton trifft. Ulrich ist zwar ganz locker darüber hinweggegangen und hat Britta auch nie wieder vorsingen lassen, aber sie vergisst es ihm nicht, dass sie sich in seiner Stunde blamiert hat. Sie kann Ulrich nicht mehr leiden. Das gibt mir das gute Gefühl, er gehört mir.
    Plötzlich macht jemand die Badezimmertür auf. Es ist Kenneth Smith, der englische Tenor, mit dem meine Mutter heute wieder probt. Sie wird mit ihm zusammen auf Tournee gehen und seine Lieder begleiten.
    Wenn man Kenneth Smith heißt, macht man es den Menschen sehr schwer. Jeder, der seinen Namen aussprechen will, kommt ins Stottern und Zischeln. Ich denke, das ist der Grund, warum Kenneth immer gleich vorschlägt, dass man einfach Ken sagen soll. Er spricht übrigens hervorragend Deutsch. Mit einem britischen Akzent, in den man sich augenblicklich verlieben muss - ich wenigstens. Seit zwei Wochen (so lange ist Ken schon in der Stadt) bin ich heimlich in ihn verknallt. Leider hat er nur Augen für meine Mutter. Dabei ist er zehn Jahre jünger als sie! Er hat außerdem nicht nur einen süßen Akzent, sondern auch eine schlanke Figur, bei Tenören soll das selten sein. (Tenöre und Sopranistinnen sind meistens fett. Keine Ahnung, woher ich diese Weisheit habe.)
    Ken stutzt bei Brittas Anblick. Er macht einen Bogen um sie und schnalzt verblüfft mit der Zunge.
    Ich warte nicht, bis meine Freundin endlich kichernd im Bad verschwindet, sondern drücke meine Zimmertür zu. Noch nie hat Ken mit der Zunge geschnalzt, wenn er mir in der Diele begegnet ist. Klar, im Vergleich zu Britta bin ich ein Plumpudding.

    Das war ein ziemlich langer, frustrierender Tag. Nachdem Britta gegangen ist und wir zu viert gegessen haben, mein Vater, meine Mutter, Ken und ich, kommt endlich der gemütliche Teil. (Beim Essen war es noch nicht so gemütlich, weil ich wegen Ken versucht habe, aufrecht zu sitzen, den Bauch einzuziehen und weniger zu futtern als sonst.)
    Jetzt bin ich mit meinem Vater allein. Ich helfe ihm beim Abräumen. Meine Mutter und Ken proben schon wieder nebenan. Unsere große Wohnküche ist mehr oder weniger das Reich meines Vaters. Im Gegensatz zu meiner Mutter kocht er nämlich gern. Das mag auch der Grund sein, warum er neuerdings ein warmes, kuscheliges Bäuchlein entwickelt. Für Ken hat mein Vater heute sogar extra einen englischen Plumpudding gemacht.
    »Madeleine«, sagt er und geht gemächlich um mich herum, »ich wollte es vorhin nicht erwähnen, aber was denkst du dir eigentlich dabei, meinen Kleiderschrank zu plündern?«
    »Ooch...«, hüstle ich. Wieso hat er das verflixte Hemd nicht vergessen?
    »Das ist eine Aufforderung«, sagt er und bohrt seinen Finger in die Insel mit der Palme auf meinem Rücken. » Meet me here. Wen willst du denn verlocken, und was tust du, wenn er anbeißt?«
    Ich kichere und winde mich, weil sein Finger mich kitzelt. Ich fühle mich plötzlich attraktiv. Nur weil mein Vater es für möglich hält, dass ich jemanden auf eine Insel locken könnte. Ich mache die Augen zu und lehne mich an ihn. Er schlingt die Arme um meine Mitte und wiegt mich ein bisschen, ehe er mich sanft wegschiebt.
    »Nächstes Mal fragst du mich vorher, okay?«
    »Kein Problem.« Ich laufe hinaus und hole die zwei Hemden aus seinem Schrank, auf die ich es ebenfalls abgesehen habe.
    »Die gefallen mir auch«, erkläre ich meinem Vater.
    Er schaut mich an und sinkt auf einen Stuhl. »Was könnte ein junges Mädchen bewegen«, sinniert er, »sich
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