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Meerhexe

Meerhexe

Titel: Meerhexe
Autoren: Irma Krauss
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eben auch im Konservatorium?«
    Ich breite geistesgegenwärtig die Arme aus. »Womit denn?«, frage ich.
    »Na, vielleicht mit Klavier?«, schlägt er vor.
    »Siehst du bei mir ein Klavier?«
    Marcel lacht. »Bis zur Probe dann. Du singst die Hexe übrigens toll!« Und weg ist er, mit schwingendem Kasten fünf Meter voraus.
    »Hey…«, sagt Britta und starrt ihm mit offenem Mund hinterher. Ihre Gefühle für Rinus hindern sie anscheinend nicht daran, einen gut aussehenden Jungen zu bemerken.
    Noch etwas fällt mir auf. Marcel hat mit mir geredet, nicht mit meiner hübschen Freundin Britta. Das ist ja interessant. Außerdem weiß ich jetzt, warum Marcel auf seiner Geige nicht nur kläglich herumkratzt: Er erhält Unterricht am Konservatorium!
    »Das war Marcel«, erkläre ich Britta. »Er spielt immer dann, wenn die kleine Seejungfrau tanzt. Und er spielt sehr gut.«
    Mehr sage ich nicht. Zum Beispiel verschweige ich, dass ich es schön finden würde, wenn Marcels Geige auch bei den Liedern der Meerhexe was zu tun hätte. Aber dazu passt natürlich keine Geige. Bei mir gibt es dafür Paukengedonner. Das macht Ulrich selbst, denn wir haben keinen an der Schule, der Pauke gut kann. Ulrich macht das toll. Wir schauen uns dabei an!
    »Hach«, seufze ich, weil ich mich auf die nächste Probe freue.
    »Aha, der gefällt dir«, sagt Britta und hält sich für sehr schlau. Obendrein guckt sie Marcel nach, bis nichts mehr von ihm zu sehen ist. Dann lässt sie sich wehmütig darüber aus, wie unmöglich es ist, mit einem Brieffreund Händchen zu halten.
    Mit einem Lehrer auch, denke ich insgeheim. Britta ist nicht die Einzige, die vom Händchenhalten träumt. Aber das kann ich mir bei Ulrich abschminken - Händchenhalten mit einem Lehrer? Bei ihm muss ich schon mit einem Lächeln zufrieden sein.
    Wenigstens kriege ich das in letzter Zeit öfter. Das Dumme ist nur, je mehr ich davon abbekomme, desto häufiger wünsche ich mir das Händchenhalten dazu. Blöd ist das, hirnrissig. Aber ich kann gar nichts dagegen machen. Es überfällt mich auch mitten im Unterricht. In Latein oder Mathe besonders, was nicht unbedingt gut für meine Noten ist. Wir haben übrigens die ersten beiden Klassenarbeiten zurückbekommen. Ich bin leider etwas abgesackt.
    Mein Vater sieht sich zu einer sorgenvollen Bemerkung veranlasst. Die Gesangsstunden seien schuld. Ich sei bisher immer eine gute Schülerin gewesen, eine sehr gute sogar … Wir sollten uns überlegen …
    Meine Mutter schüttelt den Kopf. Sie meint, es liege nicht an den Gesangsstunden, sondern am Musical. Und mit dem sei es ja in Kürze vorbei, dann könne ich wieder ordentlich lernen.
    Wie recht sie hat! Denn ich träume schließlich nicht vom Händchenhalten mit Frau Dorian. Wenn ich mich nur zusammenreißen könnte! UlrichUlrich UlrichUlrich.
    Bei Britta ist alles viel lockerer. Sie schreibt Rinus nur noch einmal pro Woche und höchstens eine Seite. Wenn sie in seinen Briefen was nicht versteht, schlägt sie nicht mehr die Wörter nach, sondern beklagt sich darüber, dass Rinus so viel über seine Schule erzählt, die sie doch sowieso nicht kennt.
    Dafür holt sie mich jetzt meistens von der Musical-Probe ab und guckt sich die Augen nach Marcel aus.
    »Ist Geige eigentlich schwer zu lernen?«, fragt sie mich. Das erinnert mich an eine Zeit, als ich vierhändig Klavier spielen wollte. Ich gebe Britta zur Antwort, dass man Geige nicht vierhändig spielen kann.
    »Hältst du mich für blöd?«, sagt Britta beleidigt. Daraufhin erzähle ich ihr in einem Anfall von halber Aufrichtigkeit, dass ich mal versessen darauf war, mit einem Jungen vierhändig Klavier zu spielen. Sein Name? Ach, keine Ahnung mehr, das ist schon so lange her...

    Die Schule, das Musical, meine Gesangsstunden, Britta und nicht zuletzt meine Ulrich-Träume lenken mich halbwegs von einer schlimmen Sache ab, über die ich mit niemandem reden kann.
    Ich habe wieder mal die Wiederholungstaste am Telefon gedrückt, einfach so und ohne mir viel dabei zu denken. Die Nummer, die dann erschien, war merkwürdig. Sie begann mit Null-Null-Eins-Zwo-Eins-Zwo.
    Im Vorwahlverzeichnis steht die Null-Null-Eins für Vereinigte Staaten, das ist Amerika. Und weil ich weiß, dass Ken in New York studiert, habe ich die Zwo-Eins-Zwo auch sofort gefunden. Es ist New York City!
    Hat meine Mutter wieder vergessen, was sie mir selbst gesagt hat? Dass sie nur einmal lebt und dass sie ihre Entscheidung bereits getroffen hat? Oder will sie die
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