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Meerhexe

Meerhexe

Titel: Meerhexe
Autoren: Irma Krauss
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Seil gereist sein. Damit wollte er sich im Falle eines Hotelbrands aus dem Fenster herablassen.
    Obwohl das heute nur die Generalprobe ist, geben wir unser Bestes. Regina singt und tanzt zum Weinen schön. Ich brülle und kreische meine Lieder und koche meine Hexensuppe dazu. Maximilian im Fantasiekostüm und mit Make-up ist ein Prinz mit Traumstimme (wenn auch ohne Traumfigur). Lennart mit seinem rauen, voluminösen Bass gibt einen prächtigen Meerkönig ab. Anna ist eine liebe Großmutter mit Brille und grauem Haarknoten und mütterlich weicher Stimme.
    Und die fünf schönen Schwestern in ihren langen Perücken sind einfach süß. Sie singen immer einstimmig und passen wunderbar zusammen. Es ist rührend, wie sie sich am Ende mit ihren geschorenen Köpfen und den Perücken in den Händen mir nähern und um den Dolch flehen, mit dessen Hilfe ihre arme kleine Schwester sich retten soll. Natürlich kriegen sie ihn. Aber ich lache gellend dazu, weil ich mir schon denken kann, dass die dumme Kuh ihn nicht benützt.
    Die schwierigste Stelle ist der Moment, in dem sich die kleine Seejungfrau von der Reling stürzen muss (ihr steht ja keine Sturmnacht mit Blitz und Donner zur Verfügung, in der man ein wenig mogeln kann). Damit sie sich nicht sämtliche Knochen bricht, liegt hinter dem Schiff die Hochsprungmatte unter der Meeresfolie. Außerdem wird das Publikum von der aufgehenden Sonne für eine Sekunde geblendet.
    Regina springt auf die Matte und robbt ungesehen von der Bühne. Im selben Moment zieht Anna, die als Einzige von uns in der Hocke inlinern kann, einen Tüllschleier über die Wellen (das soll der Schaum sein, in den sich die kleine Seejungfrau verwandelt hat), und die Geige spielt mit Dämpfer unendlich fern und himmlisch hinter der Bühne hervor (wohin Marcel rechtzeitig laufen musste, was er gerade schaffen kann). Maximilian und Nadine liegen derweil träumend auf dem Schiff in ihrem Hochzeitsbett und haben von nichts eine Ahnung.
    Ja, das ist schon sehr tragisch.
    Unser Publikum rast, als der letzte Geigenton verklungen ist. Die Klassen klatschen und trampeln und können nicht genug von uns kriegen. Um das Inliner-Geheimnis nicht zu verraten, verbeugt sich das Meeresvolk nur hinten und kommt nicht nach vorn. Wir sind unheimlich stolz und tuscheln aufgeregt über sämtliche Pannen, die passiert sind. Zum Beispiel sind Anna die Inliner weggerutscht, als sie unsichtbar die untere Hälfte des bewusstlosen Prinzen befördern sollte. Woraufhin die arme Regina allein sein ganzes Gewicht abbekam und buchstäblich darunter zu Boden ging.
    Endlich ziehen die Klassen mit ihren Lehrern ab. Nur eine Lehrerin bleibt sitzen - es kann auch eine Oberstufenschülerin sein. Ich habe sie noch nie gesehen.
    Ulrich schwingt sich auf die Bühne und umarmt jeden von uns. Als ich dran bin, kriege ich weiche Knie. Ich muss doch ein Schlüsselerlebnis für ihn gewesen sein, oder nicht? Jedenfalls habe ich in der Geschichte die heimliche Hauptrolle gespielt, das ist sicher. Der wahre Titel des Musicals sollte meiner Meinung nach »Die Meerhexe« heißen. Ich habe es auch am Trampeln und am Schreien des Publikums gemerkt, als ich ganz allein reinschwimmen und mich verbeugen musste. Das hat ja gar nicht mehr aufgehört!
    Ulrich lacht mich an und sagt: »Du warst fulminant, Madeleine.«
    Ich strahle ihn an. Fulminant kenne ich aus einer Konzertbesprechung meiner Mutter, es muss was sehr Gutes sein. Außerdem hat Ulrich das Wort nur bei mir verwendet (wenn ich mich auf meine Ohren verlassen kann).
    Er sagt: »Du solltest unbedingt Gesangsstunden nehmen.« Ich nicke selig und bin drauf und dran, ihm zu erzählen, dass ich bereits Gesangsstunden kriege. Aber da werde ich schon wieder umarmt. Und zwar von hinten. Ich drehe den Kopf. Es ist die junge Lehrerin oder Oberstufenschülerin. Sie lacht über das ganze Gesicht. »Und grüne Augen hat sie auch noch«, sagt sie.
    O ja, die hab ich. Und wie die jetzt vermutlich blitzen! Das ist der schönste Moment meines Lebens.

    Sonderbarerweise geht die Person, nachdem sie mich losgelassen hat, auf Ulrich zu und hängt plötzlich an seinem Hals. Aber wie. Und dann küsst sie ihn auch noch! Ungefähr so, wie meine Mutter und mein Vater sich hinter der Säule geküsst haben.
    Ich stehe wie vom Donner gerührt. Auf der ganzen Bühne herrscht atemloses Schweigen. Ich kann den Anblick nicht mehr ertragen und sehe mich um: Nadine steht der Mund offen, Reginas Augen schwimmen in Tränen, Stefanie fällt
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