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Medizin für Melancholie

Medizin für Melancholie

Titel: Medizin für Melancholie
Autoren: Ray Bradbury
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jeden Monat zwanzig Tage lang«, sagte Mr. Smith. »Ich werde mir da einen Job suchen und mit bloßem Kopf und offenem Mund herumlaufen.«
    »Sie können nicht weg!« Mr. Terle suchte verzweifelt einen Gedanken zu fassen; er schnippte mit den Fingern. »Sie schulden mir neuntausend Dollar Miete!«
    Mr. Smith schrak zurück; seine Augen blickten sanft und schmerzlich überrascht.
    »Es tut mir leid.« Mr. Terle wich diesem Blick aus. »Ich habe es nicht so gemeint. Also gut – Sie machen sich auf den Weg nach Seattle. Dort gießt es jede Woche sechs Zentimeter. Bezahlen Sie mich, wenn Sie können, oder auch nie. Aber tun Sie mir einen Gefallen: Warten Sie bis Mitternacht. Dann ist es sowieso kühler. Machen Sie einen schönen Abendspaziergang zur Stadt hin.«
    »Von jetzt bis Mitternacht wird nichts geschehen.«
    »Sie müssen zuversichtlich sein. Wenn alles fehlschlägt, dann müssen Sie eben glauben, daß etwas geschieht. Stehen Sie nur hier neben mir, Sie brauchen sich ja nicht zu setzen, und denken Sie an Regen. Das ist das letzte, worum ich Sie bitte.«
    Über der Wüste stiegen kleine Staubwirbel auf und ließen sich wieder nieder. Mr. Smiths Augen durchforschten den westlichen Horizont.
    »Wie meinen Sie das? Regen, o Regen, komm! Etwa solchen Unsinn?«
    »Irgend etwas. Ganz gleich, was!«
    Mr. Smith stand eine Weile zwischen seinen beiden schäbigen Koffern. Fünf, sechs Minuten verstrichen. Man hörte in der Dämmerung außer dem Atem der beiden Männer keinen Laut.
    Schließlich bückte Mr. Smith sich entschlossen und packte die Griffe seiner Koffer.
    In diesem Augenblick blinzelte Mr. Terle. Er lehnte sich vor und legte die Hand ans Ohr.
    Mr. Smith erstarrte, die Hände immer noch am Gepäck.
    Fern hinter den Hügeln ein Murmeln, ein leises, bebendes Grollen.
    »Der Sturm kommt!« flüsterte Mr. Terle.
    Das Geräusch wurde lauter; eine weißliche Wolke stieg über den Hügeln auf. Mr. Smith stand auf den Zehenspitzen.
    Oben im Hotel setzte sich Mr. Fremley im Bett auf wie Lazarus.
    Mr. Terles Augen wurden immer größer, um das, was jetzt kam, ganz aufzunehmen. Er hielt sich an der Verandabrüstung fest wie der Kapitän eines sachte und lautlos versinkenden Schiffes, der den ersten Hauch des Tropenwindes mit dem Geruch von Algen und eiskaltem weißem Kokosnußfleisch spürt. Ein ganz leichter Wind strich über seine schmerzenden Nasenflügel wie über den Rauchfang eines weißglühenden Kamins.
    »Da!« schrie Mr. Terle. »Da!«
    Und über die letzten Hügel kam, glühende Staubfedern auf werfend, die Wolke, der Donner, das Sturmgetose.
    Über den Hügeln schwang sich das erste Auto, das seit zwanzig Tagen hier vorbeifuhr, kreischend, dröhnend und wimmernd ins Tal hinunter.
    Mr. Terle wagte nicht, Mr. Smith anzusehen.
    Mr. Smith blickte auf und dachte an Mr. Fremley oben in seinem Zimmer.
    Mr. Fremley stand am Fenster und sah, wie der Motor des Autos vor dem Hotel seinen letzten Atemzug tat und starb.
    Denn dieses Geräusch hatte etwas seltsam Endgültiges. Hinter dem Vehikel lag ein sehr langer Weg auf flammenden schwefelgelben Straßen, über Salzbänke, die vor zehn Millionen Jahren von zurückweichenden Wassermassen freigegeben worden waren. Das Auto, Baujahr 1924, mit seinem Gewirr von Drähten wie Kannibalenhaar, die aus geplatzten Nähten heraushingen, mit einem großen Segeltuchdach, das über den Rücksitz geschoben und zu einer klebrigen, minzgrünen Masse zusammengeschmolzen war, schüttelte sich jetzt noch einmal, als wollte es seinen Geist aufgeben.
    Die alte Frau auf dem Vordersitz wartete geduldig; sie sah das Hotel und die drei Männer an, als wollte sie sagen: Verzeiht mir, mein Freund ist krank, aber ich kenn ihn schon so lange, und nun muß ich ihm auch in dieser letzten Stunde beistehen. Sie saß und wartete, daß die Zuckungen nachließen und alle Knochen sich entspannten, was bedeutete, daß die Agonie zu Ende war. Sie saß wohl noch eine halbe Minute da und lauschte ihrem Wagen, und von ihr ging eine solche Ruhe aus, daß Mr. Terle und Mr. Smith sich langsam zu ihr herabbeugten. Endlich lächelte sie und hob die Hand.
    Mr. Fremley wunderte sich, daß seine Hand sich von selbst aus dem Fenster streckte und ihr Winken beantwortete.
    Mr. Smith murmelte auf der Veranda: »Merkwürdig, es war nicht der Sturm, und ich bin trotzdem nicht enttäuscht. Wie kommt das bloß?«
    Mr. Terle war schon zum Wagen gegangen.
    »Wir dachten, Sie seien… ich meine…« Er stockte. »Mein Name ist
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