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Medizin für Melancholie

Medizin für Melancholie

Titel: Medizin für Melancholie
Autoren: Ray Bradbury
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Terle, Joe Terle.«
    Sie nahm seine Hand und sah ihn mit klaren, hellblauen Augen an. Augen wie Schmelzwasser von tausend Meilen weit entferntem Schnee, durch Wind und Sonne gereinigt.
    »Miss Blanche Hillgood«, sagte sie ruhig. »Promoviert am Grinnell College, Musiklehrerin, unverheiratet, dreißig Jahre Hochschulgesangverein und Leiterin des Studentenorchesters in Green City, Iowa, zwanzig Jahre Privatlehrerin für Klavier, Harfe und Gesang, seit einem Monat pensioniert und jetzt mit allen meinen Wurzeln unterwegs nach Kalifornien.«
    »Miss Hillgood, es sieht nicht aus, als kämen Sie noch von hier fort.«
    »Ich habe auch den Eindruck.« Sie beobachtete die beiden Männer, die vorsichtig um das Auto herumschlichen, und blieb unentschlossen wie ein Kind auf dem Schoß eines rheumatischen Großvaters sitzen. »Können wir Ihnen irgendwie behilflich sein?«
    »Machen Sie aus den Radspeichen einen Zaun, einen Essensgong aus den Bremstrommeln, und der Rest ergibt noch einen schönen Steingarten!«
    Mr. Fremley rief vom Himmel herunter. »Kaputt? Ich frage, ist der Wagen kaputt? Das merke ich sogar hier oben! Nun ja, es wird höchste Zeit fürs Abendessen!«
    Mr. Terle streckte die Hand aus. »Miss Hillgood, das ist Joe Terles Wüstenhotel, täglich sechsundzwanzig Stunden lang geöffnet. Krustenechsen und andere Reisende bitte einschreiben, bevor Sie hinaufgehen. Schlafen Sie heute nacht gut aus, und zwar umsonst, und morgen machen wir unseren aufgebockten Ford startklar und fahren Sie zur Stadt.«
    Sie ließ sich aus dem Wagen helfen. Der Motor stöhnte, als protestiere er dagegen, daß sie fortging. Sie schloß die Tür sorgfältig mit einem leichten Klick.
    »Ein Freund verläßt mich, aber eine Freundin ist noch bei mir. Mr. Terle, würden Sie sie bitte ins Haus bringen?«
    »Welche ›sie‹, Ma’am?«
    »Verzeihen Sie, ich stelle mir Dinge immer als Menschen vor. Der Wagen war wohl ein Mann, weil er mich herumgefahren hat. Aber eine Harfe ist doch ein weibliches Wesen, nicht wahr?«
    Sie deutete zum Rücksitz des Autos hinüber. Dort stand, gegen den Himmel gelehnt wie ein uralter, mit Schnörkeln verzierter lederner Schiffsbug, den Wind durchschneidend, ein Kasten, der gewiß jeden Autofahrer im Vordersitz beim Durchsegeln der Wüstenflauten oder des Großstadtverkehrs turmhoch überragt hätte.
    »Bitte helfen Sie mir, Mr. Smith«, sagte Mr. Terle.
    Sie banden den riesigen Kasten los und hoben ihn behutsam heraus.
    »Was haben Sie denn da?« rief Mr. Fremley von oben herunter.
    Mr. Smith stolperte. Miss Hillgood erschrak. Der Kasten in den Armen der beiden Männer.
    Drinnen ertönte ein leises, wohlklingendes Summen.
    Mr. Fremley hörte es oben im Haus. Das war alles, was er als Antwort brauchte. Er sah mit offenem Mund, wie die beiden Männer, die Dame und ihre im Kasten verborgene Freundin in der Verandatür verschwanden.
    »Aufgepaßt!« rief Mr. Smith. »Irgendein verdammter Idiot hat hier sein Gepäck stehengelassen…« Er unterbrach sich. »Ein verdammter Idiot? Das war ich!«
    Die Männer blickten einander an. Sie schwitzten nicht mehr. Von irgendwoher war ein Wind aufgekommen, ein sanfter Wind, der ihre Hemdenkragen wehen ließ und den im Staub liegenden Kalender aufblätterte.
    »Mein Gepäck…«, sagte Mr. Smith.
    Dann gingen sie hinein.
    »Noch ein Glas Wein, Miss Hillgood? Ich habe seit Jahren keinen Wein mehr auf dem Tisch gehabt.«
    »Nur ganz wenig, bitte.«
    Sie saßen im Schein einer einzigen Kerze, die den Raum in einen Ofen verwandelte, aus den guten Silberbestecken und den heilen Tellern Feuer schlug, aßen, tranken lauwarmen Wein und unterhielten sich.
    »Miss Hillgood, erzählen Sie uns weiter aus Ihrem Leben.«
    »Ich war mein ganzes Leben lang so sehr mit Beethoven, Bach und Brahms beschäftigt«, sagte sie, »daß ich es gar nicht wahrnahm, als ich neunundzwanzig wurde. Als ich das nächste Mal aufsah, war ich vierzig. Gestern einundsiebzig. O ja, da waren auch Männer; aber sie hatten mit zehn Jahren zu singen und mit zwölf zu fliegen aufgehört. Ich dachte immer, wir seien zum Fliegen geboren, darum konnte ich die meisten Männer nicht ausstehen, die mit all dem Eisen der Erde im Blut dahinschlurften. Ich habe nie einen Mann getroffen, der weniger als neunhundert Pfund wog. Man hörte sie in ihren schwarzen geschäftsmäßigen Anzügen wie Begräbniswagen vorbeipoltern.«
    »Und darum sind Sie fortgeflogen?«
    »Nur in Gedanken, Mr. Terle. Es hat sechzig Jahre gedauert, bis ich
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