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Medizin für Melancholie

Medizin für Melancholie

Titel: Medizin für Melancholie
Autoren: Ray Bradbury
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herabhängendem Kinn, in einem Zustand des Wahnsinns starrten sie auf die beiden Frauen, die stolze goldene Muse auf ihrem goldenen Pfeiler und die sitzende, die ihre sanften Augen geschlossen hatte und ihre kleinen Hände ausstreckte.
    Wie ein Mädchen, dachten sie beide bestürzt, wie ein Mädchen, das seine Hände aus dem Fenster streckt, um… aber natürlich! Um den Regen zu spüren.
    Der erste Schauer verrauschte auf fernen Straßen und Dachrinnen.
    Mr. Fremley erhob sich aus seinem Bett, als habe man ihn bei den Ohren hochgezogen.
    Miss Hillgood spielte.
    Sie spielte, und es war keine unbekannte Melodie, sondern eine, die die beiden Männer in ihrem langen Leben tausendmal gehört hatten. Sie spielte, und jedesmal, wenn ihre Finger sich bewegten, rauschte kühler Regen durch das dunkle Hotel. Er überspülte die heißen Planken des Verandabodens, fiel auf das Dach und auf zischenden Sand, auf den verrosteten Wagen, den leeren Stall und den verdorrten Kaktus im Hof. Er wusch die Fenster, schlug den Staub nieder, füllte Regentonnen und zog über die Türen Perlenvorhänge, die sich flüsternd geteilt hätten, wenn jemand hindurchgegangen wäre. Vor allem aber glitt der leichte, kühle Hauch des Regens über Mr. Smith und Mr. Terle hin. Die sanfte Last drückte sie nieder, so daß sie sich setzten. Da die Tropfen ununterbrochen auf ihrem Gesicht prickelten, mußten sie Mund und Augen schließen und schützend die Hände erheben. Dann ließen sie langsam die Köpfe zurücksinken, damit der Regen fallen konnte, wohin er wollte.
    Eine Minute lang strömte die Flut, dann verklang sie, als die Finger langsamer über den Webstuhl strichen, noch ein paar Windstöße, ein paar Böen auslösten und innehielten.
    Der letzte Ton hing in der Luft wie ein Bild, aufgenommen, während ein Blitz zuckt und eine Milliarde Wassertropfen auf der Flucht nach unten erstarren läßt. Dann verschwand der Blitz. Die letzten Tropfen sickerten durch Dunkelheit und Stille.
    Miss Hillgood nahm ihre Hände von den Saiten; sie hielt die Augen immer noch geschlossen.
    Mr. Terle und Mr. Smith hoben die Köpfe und sahen, daß die beiden wunderbaren Frauen dort drüben in der Halle unberührt und trocken aus dem Sturm hervorgegangen waren.
    Sie zitterten, lehnten sich vor, als wollten sie sprechen, blickten sich hilflos um und wußten nicht, was tun.
    Aber dann ließ ein Geräusch hoch oben im Hotel sie aufhorchen und sagte ihnen, was sie zu tun hatten.
    Das Geräusch schwebte leise, undeutlich herunter, flatternd wie ein müder Vogel, der seine uralten Schwingen bewegt.
    Die beiden Männer sahen hinauf und lauschten.
    Das Geräusch kam aus Mr. Fremleys Zimmer.
    Mr. Fremley klatschte Beifall.
    Mr. Terle brauchte fünf Minuten, bis er begriff, was das war. Dann stieß er Mr. Smith an und begann ebenfalls, die Handflächen aneinanderzuschlagen. Die beiden Männer klatschten, daß es laut schallte. Das Echo hallte aus allen Winkeln des Hotels zurück, stieß an Wände, Spiegel und Fenster und versuchte aus den Zimmern hinaus ins Freie zu gelangen.
    Miss Hillgood öffnete die Augen, als hatte dieser neue Sturm sie unter offenem Himmel und völlig unvorbereitet überrascht.
    Die Männer gaben nun ihr eigenes Konzert. Sie schlugen die Hände so inbrünstig zusammen, daß es schien, als ließen sie Knallfrösche los. Mr. Fremley schrie, aber niemand hörte ihn. Hände holten aus und trafen wieder zusammen, bis die Finger schwollen und den Alten der Atem ausging, so daß sie ihre Hände schließlich auf die Knie stützten und in jeder Hand ein Herz klopfte.
    Endlich erhob sich Mr. Smith langsam, wobei er weiter die Harfe ansah, ging hinaus und holte die Koffer herein. Er stand unten an der Treppe zur Hotelhalle, betrachtete abwechselnd Miss Hillgood und ihr einziges Gepäckstück auf der untersten Stufe und zog fragend die Brauen in die Höhe.
    Miss Hillgoods Blick wanderte von ihrer Harfe über ihren Koffer hin zu Mr. Terle und schließlich zurück zu Mr. Smith.
    Sie nickte.
    Mr. Smith bückte sich und begann mit seinem und ihrem Gepäck unter dem Arm langsam die Treppe in die wohlige Dunkelheit hinaufzusteigen. Währenddessen lehnte Miss Hillgood wieder die Harfe an ihre Schulter, und ob sie nun im Takt zu seinen Schritten spielte oder er sich im Takt zu ihrem Spiel bewegte, wußten beide nicht.
    Auf halbem Wege begegnete er Mr. Fremley, der sich im verblichenen Morgenrock die Treppe hinuntertastete.
    Beide blieben stehen und schauten zu dem Mann fern
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