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Medizin für Melancholie

Medizin für Melancholie

Titel: Medizin für Melancholie
Autoren: Ray Bradbury
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endlich den Absprung schaffte. Vorher hatte ich mich an Klarinetten, Piccoloflöten und Geigen gehalten, weil sie Ströme in der Luft erzeugen, verstehen Sie, wie Bäche und Ströme auf der Erde. Ich glitt über jeden Nebenfluß und versuchte es mit jedem frischen Wind von Händel an bis zu der ganzen Straußen-Schar. So bin ich auf einem weiten Umweg hierhergekommen.«
    »Und warum wollten Sie dann fort?« fragte Mr. Smith.
    »Letzte Woche sah ich mich um und sagte mir: Ach, sieh, du bist allein geflogen! Niemanden in Green City interessiert es wirklich, ob du fliegst oder wie hoch du kommst. Es heißt immer nur: ›Schön, Blanche‹, oder ›Danke für das Konzert zum Tee beim Lehrerverein, Miß H.‹ Aber niemand hört wirklich zu. Vor langer Zeit, als ich noch an Chicago oder New York dachte, klopften die Leute mir nur auf die Schultern und lachten. ›Wozu ein kleiner Frosch in einem großen Teich sein, wenn du der größte Frosch von Green City sein kannst?‹ Darum blieb ich weiter dort, und die Leute, die mir diesen Rat gegeben hatten, zogen fort oder starben oder beides. Die übrigen hatten Wachs in den Ohren. Letzte Woche aber gab ich mir einen Ruck und sagte: Moment mal, seit wann haben Frösche eigentlich Flügel?«
    »Und jetzt wollen Sie also nach Westen?« fragte Mr. Terle.
    »Vielleicht, um in Filmen mitzuwirken, in so einem Orchester, das die Stars begleitet. Irgendwo muß ich jedenfalls endlich mal für jemand spielen, der richtig zuhört…«
    Sie saßen in der warmen Dunkelheit. Sie hatte jetzt alles gesagt – ob es töricht war oder nicht – und lehnte sich ruhig in ihrem Stuhl zurück.
    Oben hustete jemand.
    Miss Hillgood hörte es und stand auf.
     
     
    Mr. Fremley brauchte eine ganze Weile, bis er die verquollenen Augenlider heben konnte und die Gestalt einer Frau erkannte, die ein Tablett neben sein zerwühltes Bett stellte.
    »Worüber haben Sie eben gesprochen?«
    »Ich komme später wieder und erzähle es Ihnen Wort für Wort«, sagte Miss Hillgood. »Essen Sie jetzt. Der Salat ist sehr gut.« Sie drehte sich um und wollte hinausgehen.
    Er fragte rasch: »Werden Sie hierbleiben?«
    Sie stand in der Tür und versuchte den Ausdruck seines schwitzenden Gesichts im Dunkeln zu erraten. Er sah weder ihre Augen noch ihren Mund. Sie blieb noch einen Augenblick schweigend stehen, dann ging sie die Treppe hinunter.
    Sie hat mich wohl nicht gehört, sagte sich Mr. Fremley.
    Aber er wußte, daß sie ihn gehört hatte.
    Miss Hillgood ging durch die Halle im Erdgeschoß und machte sich an dem Verschluß des Lederkastens zu schaffen.
    »Ich muß Ihnen das Abendessen bezahlen.«
    »Geht auf Kosten des Hauses«, sagte Mr. Terle.
    »Ich will aber bezahlen«, sagte sie und öffnete den Kasten.
    Plötzlich blitzte es golden auf.
    Die beiden Männer richteten sich in ihren Stühlen auf. Sie schielten zu der kleinen alten Frau neben dem mächtigen herzförmigen Gegenstand hinüber, der sie überragte. Von dem glänzenden, mit Säulen verzierten Sockel herab sah das gleichmütige Gesicht einer Griechin mit Antilopenaugen sie alle ebenso heiter an wie jetzt Miss Hillgood.
    Die beiden Männer wechselten einen raschen, bestürzten Blick, als ahnten sie beide, was nun geschehen würde. Sie liefen schwer atmend durch die Halle, setzten sich auf den äußersten Rand des heißen samtenen Sofas und wischten sich die Gesichter mit feuchten Taschentüchern.
    Miss Hillgood zog einen Stuhl heran, lehnte die goldene Harfe an ihre Schulter und legte die Hände an die Saiten.
    Mr. Terle atmete die glühende Luft ein und wartete.
    Plötzlich ging ein Wüstenwind über die Veranda und kippte die Stühle zurück, so daß sie schaukelten wie Boote nachts auf einem Teich.
    Von oben ertönte Mr. Fremleys vorwurfsvolle Stimme. »Was geht denn da unten vor?«
    Und dann bewegte Miss Hillgood ihre Hände.
    Sie begann an dem Bogen neben ihrer Schulter, und ihre Finger glitten über das einfache Gewebe der Saiten bis zu den schönen blinden Augen der griechischen Gottheit auf der Säule und wieder zurück. Danach hielt sie eine Weile inne und ließ die Töne durch die Backofenluft in der Halle zu all den leeren Zimmern hinaufsteigen.
    Vielleicht rief Mr. Fremley von oben herunter, aber niemand hörte ihn. Denn Mr. Terle und Mr. Smith sprangen auf, standen wie angenagelt im Dunkeln und vernahmen nichts als das stürmische Klopfen ihrer Herzen und das Blut, das plötzlich in ihre Lungen strömte. Mit weit aufgerissenen Augen,
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