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Marx, my Love

Marx, my Love

Titel: Marx, my Love
Autoren: Christine Grän
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Aber dass es wie jetzt an der Tür schellt, geschieht selten. Die Leute rufen vorher an. Geben einen falschen Namen an, erklären den Fall unter Vorgabe einer Freundin und erkundigen sich nach dem Preis, der ihnen meist ein Stöhnen entlockt.
    Der direkte Weg ist ungewöhnlich, und Anna zögert eine Sekunde, bevor sie auf den Knopf drückt, der die verwitterte Holztür öffnet. Auch ein Werk der »Alternativen Ossis«, die einfach alles können und dafür von Anna geliebt werden.
    Sie hört Schritte und zählt sie mit. Fünfundzwanzig Stufen. Furchtsame würden jetzt umkehren, erschlagen von den Gerüchen des Hauses oder den Lustschreien des schwulen Paares, die ausgerechnet jetzt durchs Haus hallen. Aber nein, die Schritte kommen näher, und Anna nimmt sich eine Akte vom Schreibtisch, schlägt sie auf und starrt blind auf einen Bericht über eine Parfümvertreterin, die ihren Mann mit seinem Vater betrog. Ein trauriger Fall, besonders weil das Honorar noch nicht bezahlt ist.
    Bitte, geh nicht weg, denn ich bin erstens neugierig und zweitens auf Klienten angewiesen. Das Schmerzensgeld wird nicht reichen, die Steuerschulden zu bezahlen. Im Wonnemonat Mai wird Eichel zu Annas Todfeind. Das Haushaltsdefizit Berlins ist so astronomisch, dass sie um jeden Steuereuro feilschen und selbst kleine Fische wie Anna an den Haken nehmen.
    Das Klopfen an der Bürotür ist fordernd. Anna schwingt ihre Füße vom Tisch und geht zur Tür, öffnet sie… und starrt auf Marx in Blond. Hat sie sich nicht immer für einmalig gehalten? Nein, es war nur der erste Eindruck, das Gefühl, diese Frau schon einmal gesehen zu haben.
    Sie ist in Annas Alter, doch dicker von Statur. Und sie hat ihre kurzen Haare so hell gefärbt, dass sie fast weiß erscheinen. Mit einer violetten Strähne, neonfarben. Eine mutige Frau, denkt Anna. Und dass es in Berlin viele Sadisten unter Friseuren gibt.
    »Tach«, sagt die Fremde, die Anna ebenso abschätzend gemustert hat. Die Detektivin tritt zur Seite, um Platz zu machen, und dann schließt sie schnell die Tür hinter der potenziellen Klientin.
    Die Besucherin bleibt in der Mitte des Raumes stehen und sieht sich um. »Sehr hübsch«, sagt sie, und mit Blick auf den Gummibaum und die überaus kitschige Lampe auf Annas Schreibtisch: »Spätes Disneyland?«
    »Sehr witzig«, murmelt Anna und zieht sich hinter ihren Schreibtisch zurück. Sie widersteht dem Impuls, die Füße auf den Schreibtisch zu legen und sich in ihrem Stuhl zurückzulehnen. Stattdessen schlägt sie die Akte zu und greift nach der Zigarettenschachtel.
    »Ich rauche nicht«, sagt die Neonfarbige.
    »Stört mich nicht«, erwidert Anna. Sie zündet die Zigarette mit einem langen Streichholz an, eines, das man für Kamine benutzt. Nun, in gewisser Weise ist sie auch einer, denn etwas muss brennen, damit es ihr gut geht.
    »Warum tragen Sie diese große Brille?« Die Besucherin ist vor Annas Schreibtisch stehen geblieben. Es gibt einen Stuhl für Klienten, aber offenbar traut sie ihm nicht.
    »Verkehrsunfall«, sagt Anna, und sie sagt es so, dass es nach Geschlechtsverkehr klingt. Soll die Besucherin sich doch Gedanken machen, wie man sich beim Sex ein Veilchen holt. Vielleicht könnte sie ihren Barbier fragen. Die Haare blenden. Die Person insgesamt hat etwas an sich, das ihr Gegenüber zum Schrumpfen bringt. Sie füllt jeden Raum aus, denkt Anna und richtet sich in ihrem Stuhl auf und weist auf den Platz vor dem Schreibtisch. »Setzen Sie sich doch.«
    »Sieht aus wie Sperrmüll. Gehen die Geschäfte so schlecht?«
    Berliner Schnauze der gemeinen Sorte. Annas Ohrläppchen beginnen zu glühen, ein Zeichen für aufkeimende Wut. Das ist nicht gut fürs Geschäft. »Antik, kein Sperrmüll. Sie werden ihn nicht umbringen.«
    »Ich bin groß und stark«, sagt die Blonde, während sie den antiken Sperrmüllstuhl mustert. »Ich verabscheue Diäten jeder Art. Aber Sie sehen auch nicht gerade wie ‘ne Hungerleiderin aus.«
    Wir haben immerhin etwas gemeinsam, denkt Anna. Kuh oder Ziege, dafür muss man sich ab einem gewissen Alter entscheiden. Anna mag Kühe lieber, und die Besucherin ist ein prächtiges Exemplar. Sie hat sich jetzt vorsichtig auf dem Stuhl niedergelassen, und er hat nur leise geächzt. Dass in diesem Raum nicht ein Möbel zum anderen passt, ist keineswegs »spätes Disneyland«, sondern Annas Entscheidung, ihr Geld lieber in Schuhe, Essen und Trinken zu investieren.
    »Was führt Sie zur mir, Frau…?«
    »Rosamunde Stark, besser
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