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Marx, my Love

Marx, my Love

Titel: Marx, my Love
Autoren: Christine Grän
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Geldvernichtungsmaschine. Die Hälfte ihrer Abfindung war perdu. Die Hälfte von fünfundzwanzig Jahren bei der »Bonner Zeitung« verschwand in wertlosen Medienaktien. Das Fernsehen ist noch blöder geworden und sie ärmer, und beides schmerzt auf unterschiedliche Weise.
    Nicht zurückschauen, Anna. Es waren satte Jahre in Bonn, jeden Monat das Gehalt auf dem Konto, und immer dieselben oder gleichen Visagen im Regierungsviertel. Manchmal hatte sie das wahnwitzige Verlangen, bei Empfängen zu rülpsen, nur damit irgendetwas passierte.
    Jetzt sitzen sie alle in Berlin und sind nicht besser geworden. Anna ist dem Tross gefolgt, nicht als Klatschreporterin, sondern im freiberuflichen Dienstleistungsgewerbe. Es hat schon wehgetan, dass sie sie loswerden wollten, obwohl Anna immer wieder verkündet hatte, dass sie diesen Job hinschmeißen würde. Sie waren halt schneller. Das Schlachtschiff wurde versenkt, so war es, und aus arbeitsrechtlicher Erwägung, die sie als Güte tarnten, warfen sie ihm noch ein paar Scheine hinterher.
    Dass der Berliner Ableger der »Bonner Zeitung« wieder eingestellt wurde, ist ein kleiner Trost. Anna ist ein bisschen rachsüchtig und ziemlich nachtragend, und die Uhr, die sie ihr zum Abschied schenkten, hat sie auf dem Nachhauseweg in den Rhein geworfen. Sie war betrunken, und die Uhr ein besonders scheußliches Exemplar. Beim letzten Glas in ihrer Wohnung fasste sie den Entschluss, die kleine Stadt am Rhein zu verlassen. Wenn etwas zu Ende geht, muss man ganz neu beginnen. Furchtlos sein und zuversichtlich. Nun, das ist sie immer noch. Gewissermaßen. Und genauso allein, wie sie in Bonn war. Prinzipiell, nicht immer.
    Affären gab es schon, auch in Berlin, aber mit zunehmendem Alter werden sie kürzer und unbefriedigender. Nicht unbedingt sexuell gesehen, mehr auf dem unwegsamen emotionalen Gelände. Auf dem Friedhof ihrer Leidenschaften sind verheiratete, verrückte, verhärtete Männer beerdigt, und alle hat sie einmal ein bisschen geliebt, aber nie lang genug, um sie unter Schmerzen zu begraben. Mit einer Ausnahme, aber auch diese Leidenszeit erscheint ihr heute wie ein Film, ein Klassiker, zu dem man weinen oder lachen kann, je nach Stimmung und Alkoholpegel.
    Abgesehen davon, dass die Männer ohnehin nie Schlange standen, um Anna Marx zu erwerben, stehen die Chancen einer älteren Dame natürlich schlecht. Die Verkaufsregale sind mit Jugend, Sex und Schönheit gefüllt, und in diesem Kontext darf sie sich als Ladenhüter betrachten. So unromantisch. Als ob sie nicht auch über eine Blumenwiese laufen wollte. Ja, aber mit wem? Einem, der nach einem Ladenhüter greift?
    »Man muss nehmen, was man kriegen kann«, sagt Sibylle, die die Kneipe gegenüber betreibt und etwas jünger als Anna ist. Eine Freundin, ein Zuhause, das den Namen »Mondscheintarif« trägt, die Speisekammer, der Weinkeller, den Anna nie besitzen wird, obwohl ihr Durst groß ist.
    Sibylles Geschlechtsleben ist abwechslungsreich, auch insofern, als sie in der Auswahl des Geschlechts variiert. Manchmal, wenn Sibylle in Stimmung ist und Anna die letzte Wahl, unterbreitet sie ihr sexuelle Angebote, über die sie dann bei einer weiteren Flasche Witze machen. Sibylle ist furchtbar blond, aber niemals blöd und meistens komisch. Ihr Hang, alle Hungrigen und Durstigen zu bewirten, ungeachtet der zu begleichenden Rechnung, wird sie irgendwann in den Ruin treiben. Oder die jungen Männer, die sie ausnutzen. Egal, bis dahin wird sie sehr erotisch gelebt haben.
    »Ich bin mein einziges Vergnügen«, murmelt Anna, als die Zeitung zur Gänze im Papierkorb liegt. Aber auch, das kommt erleichternd hinzu, ihr einziges Missvergnügen. Kein Mann, der sie betrügt oder einfach nur durch seine Anwesenheit in den Wahnsinn treibt. Nur der Russe oben, der seine Liebe zu sakralem Gesang mit dieser Eunuchenstimme auslebt, die sie erschauern lässt. Ein Mafioso, der irgendwann kastriert wurde? Nichts ist so blühend wie Annas Vorstellungskraft. Sie wäre besser Märchenerzählerin geworden oder dichtende Gärtnerin. Nein, sie hat den todbringenden grünen Finger. Nachdem jede Pflanze, die sie fürs Büro gekauft hatte, eingegangen ist, steht nur noch der Gummibaum neben dem Schreibtisch. Er dient auch als Garderobenständer für Klienten. Sofern sie kommen…
    »Sekretariat Detektei Marx«, sagt Anna am Telefon, wenn jemand anruft. So weit, ihre tiefe Stimme zu verstellen, geht sie nicht. Wer erinnert sich schon an Telefonate mit Sekretärinnen?
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