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Marx, my Love

Marx, my Love

Titel: Marx, my Love
Autoren: Christine Grän
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werd verrückt… jetzt dämmert’s mir… meine Alte hat Sie mir auf den Hals gehetzt…«
    Shitshitshit, denkt Anna, und es trifft die Situation genau. Ungeordneter Rückzug ist das Gebot der Stunde, und sie umklammert ihre Kamera, als wäre sie ihr geliebtes Kind, und reißt sich los, um über die Straße zu sprinten.
    Es gibt Situationen, in denen man nichts richtig machen kann. Sie hätte besser die Handtasche festgehalten, denn bei dem Versuch, sich aus seinem Griff zu lösen, fällt diese zu Boden. Eine große Tasche mit viel Inhalt, der sich jetzt auf das Trottoir verteilt…
    Die Tampons sind ihr peinlich, aber viel schlimmer ist die geöffnete Brieftasche, die am Boden liegt. Er hat Anna losgelassen und hebt ihr Portemonnaie auf. Hinter der Kreditkarte und dem Personalausweis steckt die verräterische Plastikkarte, die sie als Detektivin ausweist. Er entnimmt sie und hält sie in seiner Hand, als habe er eine schleimige Kröte angefasst.
    »Hab ich’s doch gewusst. Du dreckige kleine Schnüfflerin…«
    Sie ist nicht klein, schon lange nicht mehr. Sie ist eine große, starke Frau, die vor vielem Angst hat und jeden Tag und jede Nacht versucht, damit fertig zu werden. »Geben Sie mir meinen Ausweis zurück. Ich mache nur meinen Job, wie Sie auch.«
    Anna versucht ein Lächeln. Ihr Mund ist zu groß, sie weiß es. Und seine Augen sind wie harte Kieselsteine. Anna greift nach der Karte, und er zieht seine Hand zurück. Mit der anderen greift er nach der Kamera, und Anna sollte jetzt »Hilfe« schreien, aber irgendwie bringt sie es nicht fertig. Gelähmte Zunge und zerschnittene Stimmbänder; es ist einer dieser Tage, an denen sie alles falsch macht. Sie umklammert die Kamera und hebt ihr Knie an, um den Angreifer dort zu treffen, wo es wehtut; der Trick wird einem von Müttern überliefert, bevor man das Zielobjekt mit bloßem Auge gesehen hat, und er ahnt, was sie vorhat, weicht einen halben Schritt zurück und platziert einen Boxhieb auf die linke Seite ihres Gesichts.
    Man schlägt doch Frauen nicht, denkt Anna, während sie zu Boden geht. Der Hut fliegt weg, und sie fällt wie ein nasser Sack auf das Pflaster. Als ob sie ein Kissen wäre, fängt ihre Riesentasche den Hinterkopf auf, und zumindest dort, wo Annas beste Hoffnungen liegen, ist die Landung relativ sanft. Das Letzte, was sie sieht, ist ein Tampon, dann schließt sie die Augen und ergibt sich dem Schmerz, der sie in Ohnmacht sinken lässt.
    »Prost«, sagt der Penner, der sich mit einer Vinoflasche aus dem Kiosk über Anna beugt. »Is’ sie hinüber?« Schade, dass sich bereits Passanten um die Schlafende versammelt haben, andernfalls würde er ihre Handtasche plündern. Braucht sie ja vielleicht nicht mehr. Einige rufen nach dem Arzt, und jemand zückt sein Handy, um die Notrufnummer zu wählen.
    Der Obdachlose setzt seinen Schuh auf den silbernen Kugelschreiber, der aus der Tasche gerollt ist. Wenn niemand zusieht, wird er sich bücken und ihn unauffällig aufheben. Ein Glück, dass er so große Füße hat.

2. Kapitel
     
     
     
    Die Sonnenbrille verdeckt ein Drittel ihres Gesichts und lässt die Welt in düsteren Farben erscheinen. Die Welt, das ist ihre kleine Wohnung und das Büro, das zur Straße geht und mit all den Geräuschen die Illusion nährt, dass sie Teil des pulsierenden Stadtgeschehens ist. Urbane Gestalten brauchen einen gewissen Lärmpegel, um sich wohl zu fühlen. Das Landleben ihrer Kindheit war eine Erfahrung, die sie nicht missen möchte. Doch reichen achtzehn Jahre Natur, Kühe und Gähnen für den Rest ihres Lebens, der sich auf sechzehn Tage bemisst, wenn sie daran glauben möchte, dass mit fünfzig alles vorbei ist.
    Anna Marx sitzt an ihrem Schreibtisch, mit schwarzer Sonnenbrille und hochgelegten Beinen. Sie raucht und liest die Zeitung, die sie nur aus der Hand legt, um Kaffee zu trinken. And I was so much older then, singt Dylan aus einer alten Stereoanlage. Sie ist in der musikalischen Phase der Interpreten über fünfzig, die magische Zahl steht in dem Kalender, der aufgeschlagen auf ihrem Schreibtisch liegt und bemerkenswert wenige Termine aufweist. Eine azyklische Tendenz, denn normalerweise kriechen die Ehebrecher im Frühjahr aus ihrem Winterschlaf und begeben sich auf die Jagd, verfolgt von den Betrogenen, die irgendwann verzweifelt genug sind, um zu einer wie Anna Marx zu finden.
    Sie nimmt zweihundertfünfzig Euro am Tag plus Spesen, worunter Taxifahrten, Restaurant- und Barbesuche fallen. Die
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