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Marx, my Love

Marx, my Love

Titel: Marx, my Love
Autoren: Christine Grän
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Verrat und Rache ein romantisches Abenteuer waren, an dem sie Anteil nahm, erscheint ihr heute alles nur noch – nass. Schweiß, Sperma, Tränen – und eine Frau, die im Regen steht. Warum sie sich vor allem schlechtes Wetter zum Kopulieren aussuchen, weiß der Himmel. Anna kann sich an nur wenige Momente ihres Schattendaseins erinnern, in denen sie in der Sonne stand und sich an deren Strahlen wärmte.
    Dies ist ein Stundenhotel, und sie wartet bereits siebzig Minuten, begafft von einem Obdachlosen, der aus seinem berauschten Schlaf erwacht ist. Irgendwann wird er sich aufraffen, die Straße überqueren und Kleingeld fordern. In Berlin wird selten gebeten. Demut schickt sich nicht in der Straßenszene einer Metropole, die es sich auf einem west-östlichen Diwan aus Stahl bequem gemacht hat.
    Anna ahnt, warum der Penner vor diesem Hotel sitzt. Jeder Zweite, der hinein- oder herausgeht, ist von schlechtem Gewissen geplagt. Das ist eine gute Basis für Schnorrer. Dieser hier sollte jetzt nicht an einer Bulette kauen, denn Annas Magen fühlt sich leer und hungrig an. Er ist ein Organ mit sehr direktem Draht zum Gehirn. Man sieht es. Wohlwollende nennen Anna üppig, die anderen fett. Sind nur Worte, und in fünfzig Jahren minus siebzehn Tagen lernt man, mit dem Urteil anderer zu leben. Schuldig des Verbrechens der Gier, und die Strafe ist das Gefängnis eines Körpers, den man sich so nicht aussuchen würde. Schwanenhals, Wespentaille und Gazellenbeine wären nett, sind aber leider nicht in die Wiege gelegt. Sie war ein fettes Kind und blieb es auch, und jetzt möchte sie mit dem Fuß aufstampfen, nach ihrer Mutter schreien und mit Nahrung versorgt werden.
    Wogegen einiges spricht: Annas Eltern sind tot, und für das täglich Brot muss sie schon alleine sorgen. Kein Mann hat jemals angeboten, sie bis ans Lebensende durchzufüttern. Es fielen immer ein paar Abendessen vor den Nächten ab, das war’s auch schon.
    Auch der hübschen Dessousverkäuferin wird es nicht anders ergehen mit diesem Mann, doch dieser Trost ist hinfällig. Denn das Mädchen ist jung, und eines Tages wird einer kommen und fragen, und sie wird es tun und die begehrenswerteren Männer, die verheiratet waren, vergessen, zumindest für eine Weile…
    Nicht mitfühlen, Anna, es bringt nichts, Partei zu ergreifen. Detektive sind distanzierte Beobachter, lausige Fotografen und Überbringer von schlechten Nachrichten. Und doch wird das Elend der Betrogenen sie immer wieder mitreißen. Und so, wie sie hier steht, kann sie nicht anders. Manchmal geht Anna mit einer Mandantin essen, weil sie daran glaubt, dass Nudeln und Wein die Seele speisen. Mit Männern überschreitet sie die berufliche Grenze eher selten: Männer leiden auf eine Weise, die sie weniger bewegt. Wütender, selbstgerechter sind sie als Frauen, die letztendlich die Schuld für ihre Misere bei sich selbst suchen.
    Wovon hat sie geträumt, als sie von Bonn nach Berlin zog? Nicht davon, sich vor Stundenhotels die Beine in den Bauch zu stehen. Geheimnisvolle, mörderische Fälle wollte sie lösen, Verbrecher jagen und mit russischen Dichtern ins Bett gehen. Der einzige Russe, den sie bisher kennt, trägt ein dreifaches Doppelkinn und schreibt obszöne Briefe an Emigrantenzeitungen, denen er Vaterlandsverrat vorwirft. Er bewohnt das Appartement über Annas Büro im alten Scheunenviertel, in einem Jugendstilhaus, das würdevoll vor die Hunde geht, zumindest von außen betrachtet. Innen riecht es nach Moder, Haschisch und Weißkohl, eine Duftmischung, an die Anna sich im Verlauf eines Jahres gewöhnt hat. Die Miete für Büro und Wohnung ist spottbillig, die Besitzverhältnisse sind ungeklärt, und so wird es unbestimmte Zeit dauern, bis Sanierer das alte Haus in ein teures Prestigeobjekt verwandeln.
    So hoch war die Abfindung der »Bonner Zeitung« für ihre langjährige Redakteurin nicht, als dass Anna sich davon eine Luxusherberge hätte leisten können. Und so war sie einmal im Leben vernünftig und legte einen Teil des Geldes auf die Bank, ließ sich überreden, Aktien zu kaufen und…
    Nein, besser nicht daran denken. Der kurze Ausflug in das kapitalistische Lager endete mit der schmerzlichen Erfahrung, dass Geld eine verderbliche Ware ist. Gut, dass die Miete ihren finanziellen Verhältnissen entspricht, und zumindest denken die Leute, die dem Schild »Anna Marx – Privatdetektivin« folgen, dass sie preiswert sei. Vielleicht nicht wahnsinnig erfolgreich, aber immerhin bezahlbar für die
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