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Marx, my Love

Marx, my Love

Titel: Marx, my Love
Autoren: Christine Grän
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Opfer von Lug, Betrug und der schmerzlichen Gier nach Wahrheit.
    »Warum wollen Sie es wissen?«, fragt sie ihre Klienten und kennt die Antwort: Weil die Wahrheit bitter ist, aber nie so ätzend wie die Lüge. Warum fragt sie überhaupt? Froh soll sie sein, dass sie davon leben kann, nicht so sorglos wie in den Bonner Jahren, aber immerhin. Solange es fürs Essen reicht, für Alkohol und Zigaretten, ist die Marx nicht verloren. Unweit ihres Hauses hat sich in einem leer stehenden Haus der »Club erfolgloser polnischer Frauen« niedergelassen. Sie war so fasziniert von dem Namensschild, dass sie stehen blieb und durch das Fenster spähte. Drinnen strickten oder häkelten sie und tranken Tee aus geblümten Kannen. Sie redeten und lachten, und Anna dachte, dass sie ihnen allen Erfolg dieser Welt wünscht.
    Wenn es nicht regnet, pfeift der Wind durch Berliner Straßen, und Anna hält ihren Hut fest, dabei fällt ihr die Kamera aus der nassen Hand. In diesem Augenblick verlassen ihre Zielobjekte das Hotel. Ausgerechnet jetzt bewegt sich der Penner auf sie zu, um sie anzuschnorren. Sie bückt sich nach dem Fotoapparat, und als sie hochkommt, steht der Mann neben ihr. Er ist zu alt, um seinem Leben noch eine andere Wendung zu geben, und zu jung, um resigniert zu haben. Er riecht nach einer Mischung aus Knoblauchfeld und Weinkeller. »Haste wat für mich«, sagt er in einem Ton, der keinen Widerspruch duldet.
    Anna sagt »Zieh Leine« und fotografiert über die Pennerschulter das Paar, das sich in Richtung Taxistand bewegt. Die Frau legt den Arm um den Geliebten, das ist fotogen, sie kann die beiden ja nicht gut im Bett ablichten. Die Frau sieht glücklich aus, und der Mann ungeduldig. Mit ihren hochhackigen Schuhen kann sie seinen eiligen Schritten kaum folgen.
    »Spionin«, zischt der Penner, der in einem früheren Leben zu viele Thriller gelesen hat. Als Anna ihn ignoriert, fängt er an zu schreien, alle Wut, die in ihm ist, fokussiert er auf die Rothaarige, und weil er so laut ist und die Straße plötzlich so leise und leer, bleiben die beiden stehen. Sie starren auf Anna und den Penner, und der Mann sagt etwas zu seiner Begleiterin und geht dann auf Anna zu.
    Er will mir helfen, denkt Anna, und dass dies nicht in ihrem Handbuch für Detektive steht. Sie lässt die Kamera in ihrer Handtasche verschwinden und sucht ihre Brieftasche, um den Schreihals zum Schweigen zu bringen. »Ist ja gut, ich such nur mein Geld«, sagt Anna, doch jetzt ist es zu spät für einen Ablass, es existiert nur noch die Wut, die ein Ventil gefunden hat, und es steht vor ihm und hat rote Haare unter einem Al-Capone-Hut und große, grüne, alte Augen. Niemand hat ihm je zugehört, auch diese Frau nicht, deshalb muss er schreien, sie in Furcht versetzen, denn auch dies ist eine Form von Würde: Dass jemand Angst vor einem hat.
    Alkoholgeschwängerter Atem begleitet seine Sätze über den Zustand der Welt im Allgemeinen und Besonderen. Anna nestelt nach einem Fünf-Euro-Schein, alles Geld fühlt sich gleich an in ihren Fingern, und sie will ja keinen Fünfziger zücken… und plötzlich, sie hat nicht aufgepasst, steht die Zielperson vor ihr.
    Horst Liebig, Finanzberater, seit fünfzehn Jahren verheiratet, sagt zu ihr, und es klingt, als ob er, während er spricht, zu Erkenntnissen kommt, die sehr unangenehm werden könnten: »Ich kenn Sie doch. Ich hab Sie schon ein paarmal gesehen.«
    »Berlin ist ein Dorf«, erwidert Anna und zieht die Hand aus der Tasche.
    »Misch dich bloß nicht ein«, sagt der Penner. Er ist noch nicht zu Ende, doch der Zehner in Annas Hand überzeugt ihn, dass Kommunikation sinnlos ist, niemand hört mehr zu. Außerdem hat er großen Durst und kleine Lust, sich mit einem stämmigen Mann anzulegen. Er reißt Anna den Geldschein aus der Hand, unterdrückt Danksagungen und entschwindet auf die andere Straßenseite. Anna sieht ihm nach und wünscht sich, er wäre geblieben, um von ihrer Person abzulenken.
    »So klein isses auch wieder nicht. Und was sollte die Kamera, wenn ick fragen darf?«
    »Touristin.« Anna hat jetzt ein starkes Bedürfnis nach einer Zigarette und Schnaps. Etwas, das wärmt und beruhigt. Wie konnte sie es nur so weit kommen lassen? »T’schuldigung, aber ich muss weiter. Gibt ja so viel zu sehen in der Stadt.«
    Er hält sie am Arm fest, als Anna sich abwenden will. »Nicht in der Gegend. Sie verfolgen mich, geben Sie’s doch zu. Spionin, das hat der Penner geschrien. Sie sind eine gottverdammte, ick
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