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Marx, my Love

Marx, my Love

Titel: Marx, my Love
Autoren: Christine Grän
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den Tod. Zwischendrin vergeht einfach nur Zeit, die man irgendwie ausfüllt. Mit Warten. Anna lauert im Park auf X, der Harry Loos heißt und in der alten Villa wohnt, die an die Grünfläche grenzt. Früher müssen Bonzen darin gewohnt haben, doch das Haus verfiel mit dem System und erinnert heute mehr an eine Ruine als einen repräsentativen Bau, der es sicher einmal war. In jeder anderen Stadt hätte es längst einen Käufer gefunden, der es mit viel Geld renoviert hätte. Berlin ist nicht wie andere Städte. Der Verfall gehört dazu, die bröckelnde Erinnerung an alles, was war. So vieles, Gutes und Böses, und beides spiegelt sich auch in seinen Häusern, Straßen und Plätzen, genau das mag sie an Berlin. Die Unvollkommenheit, die Größe, sich dem Restaurierungswahnsinn zu entziehen. Anna misstraut der Perfektion in allen Bereichen des Seins und geht dabei natürlich von sich selbst aus.
    Der Kniestrumpf unter der Hose hat eine Laufmasche, und die Schuhe stinken nach Hundescheiße, in die sie trat, bevor sie die Parkbank fand. Sie hat in den Himmel gesehen, der von fast stählerner Bläue ist. Keine Wolke, aber dafür Scheiße am Boden.
    Harry Loos müsste um diese Zeit das Haus verlassen, um im »Kaffee Krause« zu frühstücken. Das hat er auch gestern getan, am ersten Tag der Observierung, und der Typ hinter der Theke, den sie ausfragte, erzählte ihr, dass Harry täglich so gegen zehn komme, außer wenn er krank sei oder die Stadt verlasse, was aber so gut wie nie passiere. Ein Stammkunde, der automatisch bedient wird, weil seine Essgewohnheiten niemals variieren. Harry konsumiert eine große Tasse Milchkaffee und zwei Croissants, jeden Tag. Danach raucht er drei Zigaretten, liest drei Zeitungen und verschwindet wieder. Er zahlt wöchentlich, und zurzeit ist er im Rückstand.
    »Jeder ist pleite, aber niemand will verhungern«, sagte der Typ hinter der Theke, der eigentlich Computerfachmann ist. Die Stadt ist voller »Eigentlich-Männer«, sie jobben als Taxifahrer, Kellner, Fahrradkuriere und erzählen jedem, dass sie dies vorübergehend tun, weil sie eigentlich Manager, Schauspieler, Regisseure, Fotografen sind. Von irgendwas muss der Mensch leben. Coole Armut. Sich über jede Verzweiflung hinwegzulügen ist Teil der Überlebensstrategie. Anna erzählte dem Computerfachmann, dass sie auf Figurensuche für eine Reality-TV-Show sei. So etwas glaubt einem in Berlin jeder, und er war beeindruckt und sehr gesprächig.
    Menschen auszuhorchen, findet Anna erschreckend einfach. Man muss nur den richtigen Knopf finden, meistens steht in großen Buchstaben »Eitelkeit« darauf. Geh auf sie zu, nimm sie ernst und wichtig, und sie öffnen Mund und Herz. Manchmal schämt sie sich, es ist ein fragwürdiges Gewerbe, hinter Freiwild herzuschnüffeln wie ein Jagdhund nach der Beute. Damit ein anderer sie erlegt und ausweidet. Was Rosi Stark im Prinzip mit Harry Loos vorhat. Er sei ein Irrer, und die gehörten selbst in Berlin von der Straße, sagte sie in Annas Büro, und Anna hatte sogleich die Vision einer Stadt ohne Menschen. Nur Rosi ist noch da und produziert Filme mit Schauspielern und Statisten, die nach ihren Drehbüchern, ihrer Regie agieren und in der Versenkung verschwinden, sobald die Scheinwerfer erlöschen.
    Harry Loos ist Drehbuchautor. Als solcher kreuzten seine Wege jene von Rosi Stark. Er habe ein paar Ideen für eine Serie geliefert, sagte die Produzentin, aber nur wenige waren brauchbar. Nachdem sie ihn zweimal zum Essen eingeladen und erkannt hatte, dass schwierige Autoren ihre Kräfte überfordern, habe sie ihn ausbezahlt.
    »Das ist alles?«, fragte Anna.
    Die Wahrheit, so verborgen wie die Lava in einem Vulkan, eruptierte in kleinen Ausstößen. Harry, so die Produzentin, war einfach gierig und wollte mehr Geld, darüber sei es zu einem Streit am Telefon gekommen, natürlich ohne Einigung, und seither verfolge der Mensch sie mit seinem Hass. Im Detail: Briefe, Telefonate, und manchmal tauche Harry irgendwo auf, bei einem Dreh oder in einem Lokal. Mit diesem irren Blick, der sie beinahe ängstige.
    Sie sah nicht aus, als ob ihr etwas Angst machte. Das könne Zufall sein, meinte Anna.
    Rosi Stark glaubt nicht an Zufälle. Sagte sie. Und auch, dass es keinen Sinn habe, die Polizei einzuschalten, obwohl sie den Polizeipräsidenten gut kenne. Harry müsse einen Schritt weiter gehen, damit die Bullen etwas unternehmen. Aber sie habe keine Lust, darauf zu warten. »Wer die Initiative ergreift, ist der
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