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Marx, my Love

Marx, my Love

Titel: Marx, my Love Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Grän
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Bett zu gehen. Anna, von besoffener Klarheit, lehnte ab. Warum eigentlich? Jetzt erinnert sie sich an die Brusthaare. Er hatte zu viel davon und zeigte sie auch noch unter geöffnetem Hemd und einer Goldkette, die auf schwarzen, gekräuselten Haaren ruhte. Außerdem war er ohnehin nicht speziell an ihr interessiert, nur bereits in dem Stadium, in dem er alles mitgenommen hätte. »If it moves, fuck it«, das war sein Spruch nach Mitternacht, über den er grölend lachte.
    Dieses Lachen meint sie zu hören, während sie mit spitzen Fingern in der Mülltonne wühlt. Was für ein dreckiger Job, in jeder Hinsicht. Sie findet außer Zigarettenschachteln, Kippen, Dosen und Pizzaschachteln zerrissene, teils beschriebene Blätter, die sie herausnimmt und in ihre Handtasche stopft. Ein Teil der Papiere ist mit roter Sauce beschmiert, es könnte auch Blut sein.
    Harry hält nichts von Mülltrennung. Er raucht, trinkt und schreibt. Er isst Dosenspaghetti und Gemüsepizza. Er ruft ungefähr dreimal täglich in Rosis Büro an und wird von der Sekretärin abgewimmelt, die auch unflätige Worte stoisch erträgt. Er wandert durch Berlin und sinnt auf Rache.
    Das sind Informationen, die der Produzentin keineswegs Lustschreie entlocken werden. Anna steht unschlüssig vor dem Fenster, sieht zum Himmel, als fände sie dort Antworten, und zündet sich noch eine Zigarette an, weil Rauchen ihre Entscheidungsfreude stärkt.
    Mit Rosamunde ist nicht gut Kirschen essen. Das sagt jeder, den Anna bisher fragte. »Eine Alphafrau«, so der Filmagent nicht ohne Bewunderung, schließlich weiß ein Porschefahrer die Erfolgreichen zu schätzen. Ihre Produktionsfirma hat sie praktisch aus dem Nichts aufgebaut. Die ehemalige Sekretärin einer Medienagentur heiratete Jacob Lenz, damals auf dem Höhepunkt seiner Schauspielkarriere, und bekam aufgrund seines Namens die Kredite, ihren ersten Fernsehfilm zu produzieren. Hauptdarsteller: Jacob Lenz. Der Film wurde mit Preisen ausgezeichnet, und Rosi begann ihren unaufhaltsamen Aufstieg als Produzentin. Wenn man ihr nachsagte, dass sie pleite sei, stieg sie wie Phönix aus der Asche mit einem neuen Projekt in den Filmhimmel. Ein Naturtalent. Eine Boxerin. Eine Frau mit dem Gespür dafür, was die Leute sehen wollten. Auch wenn es Schrott war…
    »Sie gibt den Bienen ihren Honig, das ist wohl ihr Erfolgsrezept«, sagte der Filmagent kurz nach Mitternacht, und dabei lächelte er sibyllinisch. Dass Anna bei diesem Satz nicht nachhakte, wird sie sich nie verzeihen. Man sollte nicht bei der Arbeit trinken, zumindest nicht so viel.
    Maßlos sei sie, meinte der Mann, den sie einmal geliebt hat. Er hatte in vielem Unrecht, aber in diesem Punkt nicht. Es fällt ihr schwer aufzuhören. Noch ein Glas, noch eine Zigarette, der Hintern klebt am Sessel, und die immer schwerere Zunge kann das Wort »Zahlen!« nicht formen. Aber die Hand noch das Glas heben… und hier steht sie nun mit leichten Kopfschmerzen und großem Nachdurst und starrt durch das Fenster auf leere Rotweinflaschen. Unentschlossen, nicht einmal auf der Höhe ihrer beschränkten Fähigkeiten. Sie legt die Hand auf die Scheibe, um besser Halt zu finden, und das Glas gibt nach. Bricht nicht, sondern signalisiert, dass dieses Fenster nicht verschlossen ist. Nur angelehnt, vermutlich weil die Rahmen klemmen. Sie hilft mit dem Fingernagel nach, und es öffnet sich nach innen. Ihre Hand ist schmutzig, wahrscheinlich wurde das Fenster zu Honeckers Zeiten zum letzten Mal gereinigt. Eine Kerze, die auf dem Fensterbrett stand, fällt zu Boden, und Anna duckt sich, nur für den Fall, dass noch jemand im Haus ist.
    Es bleibt still. Die Vögel zwitschern, weil es Mai ist und ein blauer Himmel von einem langen Sommer kündet. Anna kommt wieder hoch und steht vor dem offenen Fenster. So einladend. Wenn sie einsteigt, ist dies Hausfriedensbruch. Wenn sie etwas mitnimmt, Diebstahl. Bleibt sie draußen, wäre es ein Akt feiger Dummheit. Also tut sie es doch, sie stemmt ihre zweiundsiebzig Kilo nach oben, findet Halt mit dem linken Bein und schwingt das rechte ins Zimmer. Ihre Sonnenbrille fliegt dabei zu Boden und landet neben der Kerze. Sie ist drin. Steht mit beiden Beinen auf Parkettboden, der bessere Zeiten gesehen hat.
    Es ist ein großer, unordentlicher, jedoch sauber geputzter Raum. Nur auf den Flaschen hat sich Staub gefangen, und kunstvolle Spinnweben sind so zahlreich über Decke und Wände verteilt, als habe Harry die Tiere als Innendekorateure benutzt.
    Anna

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