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Seehamer Tagebuch

Seehamer Tagebuch

Titel: Seehamer Tagebuch
Autoren: Isabella Nadolny
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3 . Mai
     
    Wer schreibt schon Tagebuch? Kluge Männer schreiben die Gedanken auf, die ihnen bei diesem und jenem kommen und setzen ein Datum darüber. Frauen haben gar keine Zeit, Tagebuch zu führen. Ich wage kaum zu gestehen, daß ich es noch tue. Es ist, als gäbe ich zu, noch an den Nikolaus zu glauben. Vor vielen Jahrzehnten hat Mama mir ein Tagebuch geschenkt, es war blau mit goldenen Adern und Goldschnitt. Als das weiße glatte Papier (besonders die rechten Seiten) mich zu sehr lockte, setzte ich mich ernsthaft hin und beschrieb einen Ausflug — es war in Schweden — zu einem See mit roten Seerosen (das rot wurde unterstrichen). Es wurde ein fürchterlicher Schulaufsatz. Fein auf und dick ab steht da zu Beginn: »Mein Onkel besaß ein reizendes Jagdhaus.« (Warum in der Vergangenheitsform? Weiß der Himmel!) Mir gefiel es selber nicht. Aber mein Leben schien mir so eintönig, so langweilig, was sollte man nur in ein Tagebuch schreiben. Um etwas Abwechslung in das Tagebuch zu bringen, schrieb ich daheim in München meine Eindrücke über den neuen Deutschlehrer wenigstens in Spiegelschrift hinein, das gab dem Notieren etwas Geheimnisvolles. Später tauchte ich meine neue Hansi-Feder ins eigene Blut (wieder mal das Knie aufgeschlagen!) und schrieb ein Gedicht von Lenau hinein. Die Schrift wurde gräßlich irisierend grün mit den Jahren.
    Endlich setzten tägliche Notizen im Telegrammstil ein. »Sonntag, den 14. April. Mittags Nudelsuppe.« Da steht es. Und einer meiner ersten Verehrer, der auf meinem Schreibtisch gestöbert hatte, während ich meine Handschuhe suchte, um mit ihm in den Englischen Garten zu gehen, fand es und lachte schallend. Ich war noch zu dumm, um zu begreifen, daß es ein bitteres Lachen war. Nudelsuppe. Und kein Wort über ihn. Er fühlte sich verachtet, ich mich verulkt. In gequältem Schweigen gingen wir bis zum Kleinhesseloher See, wo die Enten etwas Munterkeit in unser Zusammensein brachten.
    Noch immer schreibe ich Tagebuch, auf dilettantische, unsachliche Art, in elegante, ledergebundene Firmenkalenderchen, die als Brosamen für mich von der Reichen Tisch fallen. Vorn und hinten stehen die wahrhaft wichtigen Dinge vorgedruckt: die Entfernungskilometer zwischen Stuttgart und München, Mittel gegen Verbrennungen, Autokennzeichen, Zinseszinsberechnungen. Dazwischen füllen sich die Seiten mit Stichworten — für niemanden wichtig, nur für mich. Es läßt sich kein kulturhistorisches Gut daraus ernten, es läßt sich für meine Urenkel nicht daraus ersehen, was für ein Mensch ich war. Die wichtigsten Ereignisse bleiben unerwähnt. (Manchmal fehlt auch eine ganze Woche.) Selbst während der Suezkrise notierte ich trotz meiner knieschlotternden Angst kurz und schlicht: »Spaziergang zur Mühle. Zwei fremde Schwäne. Abends Phillip II. gelesen.« Dennoch genügt ein Blick auf diese Eintragungen, und der Tag ist wieder da, für immer aus dem Strom der Zeit gerettet, ans Trockene gezogen, eingedost, auf Hausfrauenart. — Niemals steht da: »Zum Augenblick möchte ich sagen, verweile doch...« und doch meine ich es vielleicht, wenn ich notiere: »Föhn. Äpfel im Keller größtenteils angefault. Die erste Hyazinthe ist blau.«
    Das kleine Glück hat seine eigenen Chiffren.
     
     
     

6. Mai
     
    »Ich verstehe ja nur eins nicht«, sagte unsere Besucherin, eine starke, eindrucksvolle Persönlichkeit, »warum Sie nun, wo Ihre Eltern nicht mehr sind und Sie nichts mehr hält, freiwillig weiter in diesem Nest leben, das eine derart unangenehme Entwicklung genommen hat.«
    (Sie gehört zu den Menschen, deren Unverbindlichkeit einem das Gefühl vermittelt, beim Zahnarzt zu sein. Es tut zwar noch nicht weh, aber es wird wohl gleich.) Auch diesmal traf sie bei mir einen neuralgischen Punkt, der verhältnismäßig ungeschützt liegt: die Angst vor der Fehlentscheidung.
    Sie hatte nämlich völlig recht. Das Dorf Seeham hatte im Laufe der Jahre jenen Ausverkauf in schöner Landschaft begonnen, den kluge Leute in ihren schwarzen Stunden für den Untergang Bayerns schlechthin halten. Das einstige Idyll verwandelte sich allmählich in eine uniforme Riesensiedlung, deren Häuser, den Blaupausen phantasieloser Maurermeister entstammend, untereinander eine fatale Ähnlichkeit aufwiesen und die wenigen alten Höfe zwischen sich erdrückten. Kaum eines dieser Häuser hatte im Sommer nicht Untermieter. Doch die einstigen »Sommerfrischler«, die jahrzehntelang mit Kind und Kegel ihren Stamm-Bauern
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