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Seehamer Tagebuch

Seehamer Tagebuch

Titel: Seehamer Tagebuch
Autoren: Isabella Nadolny
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Papas letztem Tag, ehe das einsetzte, was die Mediziner »die barmherzige Lungenentzündung« nennen, war Papa untröstlich und erregt und fragte immer wieder nach seiner Mutter, »die eben noch da war«. Zum ersten Male trat die ferne, wunderschöne Großmama Marie Fjodorowna, die ich nie gekannt hatte, in unser Häuschen. Sie kam, ihn abzuholen. Der Spruch, wonach Sterben in die Mutter zurückfallen heißt, wurde begreiflich und faßbar. Einen Augenblick lang saß ich da, Papa in den Armen, der so seltsam klein und leicht geworden war, und konnte die geheimnisvolle Kette, die zugleich vorwärts und rückwärts durch die Generationen führt, in der durchsichtig gewordenen Zeit sehen. Von da an tat nichts mehr ganz so weh. Sein Sterben war, wie er es immer prophezeit hatte, reine Formalität.
    Noch immer steht mir die riesige Arbeit bevor, sein Bild wieder zusammenzusetzen, wie es war, das Licht deutlich zu machen, das er ausgestrahlt hat. Die zwei Jahre seit seinem Tode sind dazu noch kaum ein Anfang gewesen.
     
     
     

20. Mai
     
    Heute vormittag rief der Mann aus dem Autohaus der kleinen Kreisstadt an, der bestellte neue Wagen sei da. Michael fuhr hinein, ihn abzuholen. Keine jubelnde Ergriffenheitsszene fand statt, auch kein tränenreicher Abschied vom alten Wagen. Mir fiel jedoch immerhin auf, daß etwas fehlte. Es scheint sich darin gegen früher Wesentliches geändert zu haben. Kluge, mathematisch denkende Menschen haben den Durchschnittsbürger überzeugen können, daß ein Wagen nach soundsoviel Kilometer rasch an Wert verliert, so daß es, wenn man nicht Verluste erleiden will, rentabler ist, ihn für einen neuen in Zahlung zu geben. Der Gebrauchswagen wird in steigendem Maße zum Verbrauchswagen. Schon, wenn er strahlend und neuerworben dasteht, muß man sich sagen, daß auch dieser Held jung sterben wird, und so kann sich zu ihm kein persönliches Verhältnis mehr bilden. Man ist nur noch auf Gedeih mit ihm verbunden, nicht mehr auf Gedeih und Verderb. Es geht mit der äußeren Blechhülle jetzt wie mit dem guten Anzug. Richtig wahrgenommen wird er nur bei der Anprobe. Von da an sitzt er nur noch mehr oder minder bequem.
    Wie seltsam unromantisch, wie sachlich das alles geworden ist. Und dabei hat es doch seinerzeit kaum eine Veränderung gegeben, die unser Leben hier so von Grund auf umgekrempelt hat, wie der fahrbare Untersatz.
    Unser erster war ein alter Opel P 4, hieß »Hochwürden« und sah auch so aus. Er war aus den allzu kundigen Händen eines Autoschlossers und Polsterers »so gut wie neu« hervorgegangen, und erst nach etwa einem Jahr durfte, ohne Ehekrieg zu entfachen, zugegeben werden, daß man uns mit ihm gewaltig hereinlegt hatte. Auf der Autobahn machte er glatt seine siebzig, darüber hinaus hob er ab und machte sich zum Fluge bereit. Auch litt er an geheimnisvollen inneren Störungen, weil sein Kühler verkalkt war. Gelegentlich mußten wir halten und ihm in der nächstgelegenen Reparaturwerkstätte ein Klistier verpassen lassen. Wenn man dann den Motor anließ, waren alle hilfsbereit Umherstehenden bis aufs Hemd durchnäßt, und man konnte wieder mindestens 50 km weit fahren.
    Im Winter fror man in Hochwürden derart, daß ich wie im finsteren Krieg und Nachkrieg den in der Kachelofendurchsicht vorgeheizten Wärmstein von Großmama in den Mantel stopfte. (Ab Rosenheim war er lauwarm.) Eine nächtliche Heimfahrt mit Hochwürden war ein Abenteuer, ein Allen-Gewalten-zum-Trotz, aber er konnte etwas, was kein Wagen nach ihm in solchem Ausmaß gekonnt hat: er vermittelte der in ihm eingeschlossenen Familie das Zusammengehörigkeitsgefühl einer Schiffsmannschaft auf einem brüchigen Segler vor Kap Horn. Hochwürden und das Haus beschnüffelten einander mißtrauisch. Er hatte natürlich zunächst keine Garage und war gezwungen, sich mit dem Hinterteil gegen das gestapelte Holz an der Ostwand zu stellen. Wenn er angelassen wurde, stank Michaels Zimmer noch stundenlang nach Benzin. (So dicht waren die Mauern des gemauerten Hausteils auch wieder nicht.) Bald aber wurde uns klar, daß wir mit Hochwürden ein weiteres Zimmer ans Haus angebaut hatten, ein Aussichtszimmer, einen Wintergarten. Zum ersten Male nach Jahren konnte nun wieder die ganze Familie gemeinsam in Seehams wundervolle Umgebung ausschweifen. Papa fehlte es nun nicht mehr, daß er nicht mehr radeln konnte beziehungsweise durfte. Wir fanden ihn zu den abwegigsten Tageszeiten freudig bereit, Hut und Stock zu ergreifen und eine
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