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Seehamer Tagebuch

Seehamer Tagebuch

Titel: Seehamer Tagebuch
Autoren: Isabella Nadolny
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aufsuchten, waren einer rasch wechselnden anonymen Masse gewichen, den »Fremden«, die sich im Dorf nicht heimatlich fühlten und daher für den Lärm ihrer Kofferradios und den von ihnen hinterlassenen Schmutz nicht verantwortlich. Außerdem kam es nunmehr auf ihre Zahl, nicht mehr auf ihre Qualität an (was Durchreisende bereits sehr wohl bemerkten und registrierten. Ein alter Bauer war es, der zu mir sagte: »Mei, früher... früher, dös san ja Herrschaften g’wen, Herrschaften...). In die Jagd nach dem Zehnerl reihten sich Rentner und ausgesteuerte Hoferben mit Eisund Limonadeverkauf am Strande ein. Doch während der Geldstrom für Seeham etwa Mitte September versiegte, überdauerten Eisbecher, Papiere, Flaschen und Konservendosen in tückischer Unverweslichkeit den Winter bis zur nächsten Saison. Im Juni darauf noch sah der einst so schöne Strand so aus, daß nur die Robustesten darauf ihre Bademäntel auszubreiten wagten.
    Doch auch im Winter war das dörfliche Idyll dahin. Die Tankstellen und Neonlichter blieben, schreiende Reklametafeln einheimischer Handwerker und Gasthäuser, sinnlos geworden, weil ja jeder jeden kennt, glotzen ins Schneetreiben. Und so manches alte Anwesen ist abgerissen oder umgebaut worden und wirkliche Schönheit zugunsten einer armseligen, geschmacklosen »Moderne« geopfert.
    Was sagt in der vielen berühmten Frauen zugeschriebene Anekdote die Dame über ihre stürmische Ehe? »Ich habe gelegentlich Mordgedanken gehabt, Scheidung aber niemals in Betracht gezogen.« Ungefähr so verhält es sich auch mit der Bindung an einen Ort, in dem man seit dreißig Jahren lebt. Und so sind denn auch wir, die wir von diesem Aufschwung keinerlei Verdienst, sondern nur Mißlichkeiten, Unruhe und Arbeitsbehinderung abbekamen, manchmal mit Zähneknirschen, manchmal mit dankbarem Aufatmen — geblieben. (Tief einschneidende Veränderungen überlasse ich gern dem Schicksal. Das tägliche Leben selbst in bekannter, wohlvertrauter Umgebung ist aufregend genug.)
    Die Frage unserer Besucherin heute hat mich an die mancherlei Gelegenheiten erinnert, in denen wir beinahe fortgelockt worden wären. An Versuchungen hat es nicht gefehlt. Manche tarnten sich als Überlegungen voll echter Vernunft. Als zum Beispiel Michael in einer großen Stadt Norddeutschlands eine Stellung antrat (sie versetzte ihn auf die andere Seite des Schreibtisches, dorthin, wo Gelder verteilt werden und man nicht, geistige Produkte anbietend, in Bittstellerhaltung zu stehen hat), schien es nur eine Frage der Zeit, wann wir zu ihm stoßen würden. Zunächst einmal begleitete ich ihn nicht, sondern blieb in Seeham, um Papa und dem Jungen Apfelstrudel zu backen (den sie freundlicherweise behaupten nicht entbehren zu können) und mir in stillen Augenblicken zu überlegen, daß ich ja seinerzeit vor dem Plakat des Kartoffelkäfers in unserem Gemeindezimmer geschworen hatte, Michael überallhin zu folgen. Nach einer Weile besuchte ich ihn in der fernen Stadt und sah staunenden Auges den Apparat, der ihm nun zur Verfügung stand. Schreibkräfte, Vorzimmerdamen, Fernschreiber, mehrere Telefone. Macht statt Freiheit. — Wie es denn mit seinem Roman ginge? Nun ja, er versuche jetzt in den frühen Morgenstunden weiterzuschreiben. Abends sei er dazu zu erschossen. Um fünf Uhr ginge der Wecker. Aber er käme nicht recht vorwärts. Ja, an den Wochenenden durchstreife er die Umgebung. In einem abgelegenen Waldhüterhäuschen habe er um ein Glas Milch bitten wollen, da sei ihm ein Kellner im Frack entgegengetreten. Das, was man hier als Natur bezeichne, sei erschreckend geordnet, gefegt und städtisch. — Unausgesprochen schwang zwischen uns die Erinnerung an die Wälder um Seeham, in denen man sich noch nach zwanzigjähriger Ortskenntnis verirrte, an die einsamen, hochgelegenen Almen, an die stillen Täler, in die man von dort heruntersah, an unser trotz allem Fremdenverkehr noch immer bezaubernd unberührtes Hinterland. Wir sahen uns lange an. Als ich den Blick abwandte, bemerkte ich hinter dem wichtigen, bedeutungsgeladenen Schreibtisch den Nagel in der Wand, an dem Michaels Hut hing. Er hatte sich vertraglich ausbedungen, daß er ihn jederzeit aufsetzen und wieder seiner Wege gehen dürfe.
    Auch ich war nun keineswegs mehr sicher, daß wir nach Norddeutschland ziehen würden, und fuhr getrost in mein Dorf zurück.
    Es war noch frühes Frühjahr, und man konnte jene Gebilde noch nicht ausziehen, die in meiner Familie als Kirchen- oder
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