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Seehamer Tagebuch

Seehamer Tagebuch

Titel: Seehamer Tagebuch
Autoren: Isabella Nadolny
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nur herumzuschwenken brauchte. In einer Nische des Raumes, ebenfalls hell angestrahlt, saß die Ansagerin. Sie war so schön, daß sie aussah wie eine Gottheit, der Opfergaben dargebracht werden sollen. Auch ihr war schrecklich heiß, denn sie tupfte manchmal mit einem Tüchlein an ihre Stirn und lächelte mir dazwischen ermutigend zu. Dann sagte sie mich an, mit sanfter, gedämpfter Stimme, als befänden wir uns in einem Salon voll kostbarer Gobelins. Ich hatte furchtbare Angst, und nur der Gedanke an den Küchenfußboden daheim hielt mich noch aufrecht. Würde ich auch den Kopf ruhig genug halten und würden mir nicht aus der Erstfassung des Textes ein paar kesse Pointen unterlaufen? Das rote Basiliskenauge der Kamera leuchtete vor mir auf, und ich sagte in den totenstillen, vor Hitze summenden Raum hinein: »Guten Tag!« zu den tausend Augen, die mich sahen, und die ich nicht sah. Links vor meinen Füßen, die nicht mit aufs Bild kamen, stand eine Art Teewagen mit Bildschirm, der sogenannte Monitor, zu meiner Kontrolle. Aber ich konnte mich nicht kontrollieren, weil sonst meine Pupillen garantiert aus dem Bild gegangen wären. Ich brauchte auch meine ganze Kraft dazu, mich überhaupt an meinen Text zu erinnern. Man hatte mir widerraten, ihn auswendig zu lernen, darunter litte die Lebendigkeit des Vortrags. Ich sprach langsam und milde, so wie die Männer es wollten. Diejenigen meiner Freunde, die mein unruhiges Temperament kannten, warteten irgendwo in Deutschland am Bildschirm zitternd darauf, daß ich entweder einschliefe, oder in Ohnmacht fiele. Als ich fertig war, mußte ich ganz ruhig Sitzenbleiben, denn nun kam noch die Absage. Erst als alle mit den Türen warfen und ausriefen: »Na, für heute langt’s!« war es wirklich zu Ende. An der Art, wie die wichtigen Männer mir die Hand schüttelten, war klar zu erkennen, daß sie fast noch mehr Angst gehabt hatten als ich.
    Ich nahm furchtbar erleichtert das Geld für den Küchenfußboden entgegen und fuhr nach Hause. (In Seeham sprachen mich viele Leute an, die mich erst im Fernsehen wahrgenommen hatten, obwohl sie mich doch seit mehr als zwanzig Jahren täglich nah sehen.)
     
     
     

24 . Mai
     
    Ringsum fallen die Wasser. Der schmutzige Treibholzbrei, den die Flüsse aus Tirol herangeschleppt haben, senkt sich unter dem Landungssteg. Nur das Wasser in meinem Keller versinkt nicht. Es blickt mich glitzernd an, wenn ich eine Dose Apfelmus heraufholen will. Täglich einmal muß unser Junge seine Abiturvorbereitungen unterbrechen und ausschöpfen. Ich sitze auf dem Küchenhocker und sehe ihm zu, wie er den Eimer schwingt. Eben noch, vor ein paar Jahren, mußte er sich mit seinem ganzen Gewicht an die Klinken hängen, um eine Tür aufzubekommen, und ich schnürte ihm die Stiefel zu. Wie rasch die Zeit vergangen ist! Bald wird er fort sein, aus dem Hause. Söhne, so lautet ein alter Spruch, bekommt man nur geliehen.
     
     
     

26 . Mai
     
    Nun sind es schon zwei Jahre, daß Papas Leidenszeit zu Ende ging. Ich hatte unter diesem Wort immer Bettlägrigkeit und Schmerzen verstanden. Progressive Gehirnsklerose aber ist der Verlust der primitivsten Fähigkeiten, die Verzerrung einer strahlenden Persönlichkeit, die Verwandlung eines Menschen in ein Gespenst. Über das, was uns bevorstand, ließen uns die Ärzte keine Illusionen, aber über die Dauer dieses Zustandes wußten sie nichts zu prophezeien. Wie selten habe ich während der schweren Pflege realisiert, daß ich nun eine wunderbare Kindheit, eine Dankesschuld abzahle. Wie sinnlos habe ich mich damit aufgehalten, richtigzustellen, zu organisieren, jene Ordnung aufrechtzuerhalten, jenseits derer das Chaos droht. Da ich kein Ende sah, bin ich durch alles hindurchgegangen, wie man durch einen Schneesturm geht, vorgeneigt, starren Gesichts, weiter, nur weiter.
    Die guten Pfleger sind heiter und gleichmütig. Ich war erregt, unsachlich, gelegentlich verzweifelt, ohne es Papa merken zu lassen. In seiner letzten Woche erkannte er mich nicht mehr. »Du bist ein hübsches Mädel, wem gehörst du denn?« fragte er, dankbar und zärtlich nach mir tastend. Mir war, als würde ich in eisiges Wasser getaucht. Zum ersten Mal waren wir einander fern seit dem Tag, als er mich im Nymphenburger Krankenhaus auf den Arm nahm und sagte: »Ah, eine Tochter?«
    (Das nüchtern beobachtende Gehirn stellte fest, wie oft ich das Wort »herzzerreißend« unbedacht gebraucht hatte, ehe ich das Gefühl kannte, das mich nun erfüllte.)
    An
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