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Mark Brandis - Testakte Kolibri

Mark Brandis - Testakte Kolibri

Titel: Mark Brandis - Testakte Kolibri
Autoren: Mark Brandis
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werden. Und trotzdem: irgendwo im Inneren dieser silbrig glänzenden eleganten Schiffe nistete der Wurm und nagte an ihrem Lebensnerv. Wollte man ihn aufspüren, so mußte man ihn auf frischer Tat ertappen. Eine andere Möglichkeit gab es nicht. Ich spürte, wie sich bei diesem Gedanken mein Magen zusammenzog.
    Eine große weiße Möwe schoß an mir vorbei und hielt hinaus auf das Meer, über das einst James Cook gekommen war, der Weltumsegler, der Entdecker. Hat er sich je träumen lassen in den einsamen Tagen und Nächten auf See, daß die leeren Räume über ihm einst von schnellen Schiffen durchzogen sein würden?
    Bei der Nummer Eins war die Schleuse aufgefahren. Als ich mich bückte, um an Bord zu gehen, wurde ich zu meiner Überraschung angesprochen.
    »Warten Sie! Ich komme zu Ihnen.«
    Boleslaw Burowski mußte mich schon eine ganze Weile lang beobachtet haben, bevor er das Schweigen brach. Er hatte oben im Cockpit gesessen. Nun, nachdem ich etwas zur Seite getreten war, ging er von Bord.
    »Brandis, der neue Projektleiter, nehme ich an.« Er drückte mir die Hand – ein großer blonder Junge mit etwas verträumt wirkenden blauen Augen. »Nun, wie gefällt Ihnen der Tauchvogel?«
    Burowskis ungestüme Herzlichkeit verwirrte mich. Die Frage war von einer Direktheit, die mir das Antworten schwermachte.
    »Wichtiger ist doch wohl«, sagte ich schließlich, »ob er Ihnen gefällt.«
    »Ob er mir gefällt?« Burowski tätschelte die Verkleidung. »Ich bin begeistert.«
    Was er sagte, meinte er. Da war nichts von Staffords dumpfer Revolte, nichts von Vidals Zynismus, nichts von Vargas‘ hoffnungsloser Resignation. »Und keine Angst, ihn zu fliegen?«
    »Angst?« Burowski breitete die Arme aus. »Das gehört dazu. Aber das ist wie mit einem Gedicht. Wenn man es anfängt, weiß man noch nicht, wie es endet – ob glücklich, ob tragisch. Haben Sie das nie empfunden?«
    »Nein.« Ich blickte auf die Uhr, nickte Burowski noch einmal zu und ging zum Transporter zurück. Auf dem kurzen Weg zum Tower versuchte ich mir klarzuwerden über mein Team, soweit ich es nun kannte. Das war weiß Gott ein sonderbarer Verein! Eine Handvoll Männer, die zu keinem anderen Beruf mehr taugten – und dann dieser milchgesichtige Poet, der allein im Cockpit saß und sich in den Himmel hineinträumte.
    Ein Lichtblick wenigstens war es, daß Pieter Jordan morgen aus dem Urlaub zurückerwartet wurde. Der dunkelhäutige Südafrikaner, den man ein Jahr zuvor nach einem schweren Unfall wieder zusammengeflickt hatte, war mir von Baklanow, als wir das letztemal miteinander telefonierten, wärmstens empfohlen worden. Und ein Pilot, den Baklanow empfahl, pflegte in Ordnung zu sein. Ich rief mir Jordans Personalakte ins Gedächtnis zurück. Wenn mich nicht alles trog, stand da was über eine Hirnprothese – aber Baklanow schien das nicht gestört zu haben.
    Im Tower war es angenehm kühl. Ich begrüßte die beiden diensthabenden Controller, und da es offenbar nicht mehr für mich zu tun gab, wandte ich mich gleich darauf wieder zum Gehen.
    »Einen Augenblick, Sir!« sagte jedoch der eine. »Ich nehme an, Sie kennen Grischa Romen noch nicht. Wenn Sie sich etwas gedulden – er wird gleich hier sein.«
    Grischa Romen mit der Nummer Sieben, dem einzigen Schiff, das sich an diesem Tag im Zustand der praktischen Erprobung befand, wenn man von Baklanow absah, für den es keine Rückkehr mehr gab. Wo mochte dieser sich befinden – um diese Stunde? Weit, weit entfernt jedenfalls – so weit, daß seine Stimme uns nicht mehr erreichte. Als Stafford mit dem Transporter erschienen war, um mich abzuholen, hatte es bereits keine Verbindung mehr gegeben. Baklanow, der das Leben so sehr geliebt hatte!
    »Sir!« Einer der beiden Controller drehte sich halb nach mir um. »Da kommt er.«
    Ich fühlte mich auf den Arm genommen. Nichts war zu hören – außer dem Knistern der Sterne im Lautsprecher und dem leisen Wimmern einer fernen Mundharmonika. Die Musik irritierte mich, und ich sah mich nach einem Knopf um, um sie abzustellen. Der Controller bemerkte es.
    »Nicht doch, Sir! Das ist er selbst, Grischa, der verrückte Zigeuner. Das ist seine Melodie.« Die Mundharmonika im Lautsprecher wurde lauter und lauter, und plötzlich erkannte ich die Melodie: eine alte russische Zigeunerweise.
    »Ujdì, sowßem ujdì – Geh fort, geh fort von mir!«
    Ich runzelte die Stirn, entschlossen, diesem Unfug ein Ende zu setzen, aber da sagte der andere Controller: »Das ist
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