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Mark Brandis - Testakte Kolibri

Mark Brandis - Testakte Kolibri

Titel: Mark Brandis - Testakte Kolibri
Autoren: Mark Brandis
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daß ich in meinem Quartier nicht allein war. Der Besucher, der – ein Glas in der Hand – mit übereinandergeschlagenen Beinen entspannt in einem meiner Sessel saß, trug das gleiche verschlissene und verschwitzte Khakizeug wie Stafford. Bei meinem Eintreten wandte er sich mir zu. »Sie überhörten mein Klopfen, Brandis. Ich habe mir erlaubt, es mir bequem zu machen – und die Flasche stand gerade griffbereit.«
    Er stand auf, um mir die Hand zu reichen.
    »Henri Vidal. Freut mich, Sie kennenzulernen. Ein großer Ruf eilt Ihnen voraus.«
    Der Name war mir geläufig. Vidal war einer unserer erfahrensten Testpiloten – wenn er auch so, wie er da vor mir stand, das Glas in der Hand, einen leicht spöttischen Zug um den Mund, eher an einen jener französischen Kavallerieoffiziere erinnerte, die zwei Jahrhunderte zuvor die Kolonien und die Pariser Salons unsicher gemacht hatten: schneidig, verwegen und bis ins Mark hinein blasiert. Das jedenfalls war mein erster Eindruck von ihm – der vielleicht auch nur hervorgerufen wurde durch das rote Seidentuch, das Vidal mit aufreizender Nachlässigkeit um seinen Hals geschlungen hatte.
    »Bitte, behalten Sie doch Platz, Vidal.« Ich war entschlossen, mich nicht herausfordern zu lassen. »Wie ich hörte, sind Sie bei diesem Projekt von Anfang an dabei.«
    »Was nur dafür spricht, daß ein Vidal nicht auszurotten ist.« Vidal ließ sich in den Sessel zurücksinken und schlug erneut die Beine übereinander. »Sehen Sie, Brandis: der eine hat Geld, der andere Macht und Erfolg – ich selbst habe nur Glück, aber auch das ist nicht zu verachten.« Er tippte mit spitzem Zeigefinger auf den Aktenordner, der vor ihm auf dem Tisch lag. »Der da hatte nicht ganz so viel Glück. Hier ist das Protokoll. Sie werden nichts darin finden, wonach Sie suchen. Das Ganze ist und bleibt ein Geheimnis, ein elendes Geheimnis.«
    Ähnliches hatte auch Stafford schon zu mir gesagt. Die Unfallprotokolle schilderten nüchtern und lapidar den Ablauf der Katastrophen, ohne Hintergründe sichtbar zu machen.
    Auch diesmal war es nicht anders; ich stellte es fest, als ich den Ordner aufschlug. Unter der vorgedruckten Überschrift URSACHE befand sich lediglich der knappe handschriftliche Vermerk unbekannt .
    Fünf tödliche Unfälle, für die es keine Erklärung gab!
    Ich schlug die Mappe wieder zu. »Ich werde mich später damit beschäftigen. Ein Bericht aus Ihrem Mund wäre mir im Augenblick wertvoller. Ich ziehe mich inzwischen an.«
    Ich ging hinüber ins Schlafzimmer und ließ die Tür offen. Eine Khakiuniform lag für mich auf dem Bett bereit.
    »Also –«
    Ich hörte, wie Vidal sich ein neues Glas einschenkte, bevor er sagte: »Man weiß nicht, wann es passiert. Aber wenn es dann passiert, dann stets unter Wasser. Aber das ist Ihnen ja nicht neu.«
    »Was passiert?«
    »Das, was auch in jedem Protokoll steht. Der Antrieb versagt. Das Schiff sinkt, bis schließlich die Verbände nachgeben und der Pilot ertrinkt.«
    »Baklanow ist nicht ertrunken.«
    »Das ist nur die andere Seite der Medaille. Der Antrieb versagt zwar – es sei denn, man schaltet ihn auf Alarmstart. Dann blockiert er in diesem Zustand, wie jetzt bei Baklanow. Der Pilot ertrinkt zwar nicht, dafür aber verliert sich seine Spur irgendwo unter den Sternen. Das eine ist so endgültig wie das andere. Ist es das, was Sie hören wollten?«
    »Ja. Und Sie können sich gar nichts vorstellen, was dahintersteckt?«
    »Mein lieber Brandis, wenn ich etwas wüßte, würde ich noch heute zum Abstinenzler werden. Ich weiß nur eines: Schaffen Sie Baklanows Kolibri herbei! Dort finden Sie die Antwort.«
    »Mit anderen Worten, Vidal: in allen fünf Fällen war es nicht möglich gewesen, eine Untersuchung der Unfallschiffe vorzunehmen? Zwei sind doch, so viel ich weiß, vom Meeresboden geborgen worden.«
    »Stimmt. Lauter zerquetschte Wrackteile. Sie lagern noch in der Werft. Bisher hat sie noch niemand zum Reden bringen können. Vielleicht gelingt es Ihnen?«
    Diesmal war der Spott unüberhörbar. Spott – oder der selbstvernichtende Zynismus eines Mannes, der sich auf verlorenem Posten wähnte? Um das zu unterscheiden, war ich noch nicht lange genug auf Espiritu Santu.
    Nachdem Vidal gegangen war, ließ ich mir einen Transporter kommen und begann mit der Inspektion.
    Mein erster Weg führte ins Kasino, und dort lernte ich Manuel Vargas kennen, den dritten meiner Piloten. Als ich eintrat, war er gerade damit beschäftigt, mit einem der
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