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Giftiges Grün

Giftiges Grün

Titel: Giftiges Grün
Autoren: Elsemarie Maletzke
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S ie sahen sich auf der Beerdigung, aber der Blick, den die beiden Männer wechselten, verriet nur, dass sie sich kannten. Er hatte nicht gewusst, dass Rose so viele Freunde gehabt hatte, und staunte über die Menge der schwarz Gekleideten. Sogar das kleine Fräulein mit den Froschaugen war gekommen. Es regnete an diesem Freitag im September, und hinter dem Sarg wallte ein Zug von Schirmen her, aber als der Sarg hinabgelassen wurde und der Pastor die Aussegnung sprach, hörte der Regen auf. Alle klappten ihre Schirme zusammen und standen barhäuptig unter den tropfenden Bäumen. Danach gingen sie stumm an der offenen Grube vorbei; jeder nahm eine weiße Rose aus der Schale, die neben dem Grab stand, und warf sie auf den Sarg. So hatte sie es sich gewünscht. Das kleine Fräulein blieb einen Moment länger stehen und schaute mit gefalteten Händen in die Tiefe. Es gab keine Leidtragenden, denen man kondolieren konnte, es sei denn, er hätte sich selbst in die erste Reihe gestellt.
    Er blieb nicht, bis alle vorbeidefiliert waren, so lange konnte er nicht stehen, und wandte sich in der Menge wieder dem Ausgang zu. Auf dem Kiesweg zwischen den Gräberreihen gab es Gedränge und er wurde von einem Mann mit einem Regenschirm angerempelt; die Spitze traf ihn schmerzhaft am Knöchel.
    »Ein Flegel, wie immer«, sagte er und drehte sich zu ihm um.
    »Hallo, mon vieux«, erwiderte der andere. »Wie gehen die Geschäfte?«
    »Besser als deine.«
    Der andere lachte.
    »Irrtum. Ich bin mit dem Abschluss sehr zufrieden. Am Ende bekommt jeder, was er verdient.« Er sah ihn an, als wolle er noch etwas hinterherschicken, drehte sich dann aber grußlos um und verschwand zwischen den abwandernden Trauergästen.
    Er wollte noch einmal nach Buchfinkenschlag fahren und nahm die Schnellstraße über den Rhein und zur Grenze. Zwei Stunden später parkte er neben dem Tor. Ein mit Bauschutt beladener Lastwagen kam ihm entgegen. Hinter dem Wagen wickelte ein Mann mit gelbem Sicherheitshelm eine Kette um die Gitterstäbe des Tores. Es war Freitagnachmittag. Feierabend. Er sah, dass das Dach schon neu gedeckt war, ein großer schwarzer Flügel aus Schieferschuppen, der sich um den kleinen runden Turm in der Mitte schmiegte. Die Fassade war eingerüstet.
    Er bückte sich steif, schob sich unter der nachlässig geschlungenen Kette zwischen den Torflügeln durch und ging langsam die Auffahrt entlang. Er hätte sich etwas zu trinken mitnehmen sollen. Aber Marie war sicher zu Hause und er konnte später bei ihr ein Glas Wasser oder einen Kaffee trinken. Und auch das Badezimmer benutzen.
    Er öffnete den Mantel, weil ihm warm geworden war, stieg, gestützt auf seinem zusammengerollten Schirm, die Freitreppe hinauf und trat durch die offene Tür in die Vorhalle. Es roch nach feuchtem Putz. Als er diesen Ort das letzte Mal gesehen hatte, lag die Halle in Trümmern. Jetzt war der Schutt weggeräumt, die Decke abgestützt. An der Marmortreppe wurde gearbeitet. Die Erinnerung überfiel ihn zusammen mit einem kurzen Schwindel. Sein Herz klopfte stark. Hier drinnen war ihm nicht wohl; er musste an die frische Luft; sich vielleicht im Park unter einem Baum erleichtern. Schrecklich, dass er nicht mehr so gut zu Fuß war und nun mit hastigen kurzen Altmännerschritten durch die Halle und zum Hinterausgang strebte. Von dort war es nur noch ein kurzer Weg durch den Hof bis in den Garten.
    Als er das Wegekreuz erreicht und sich auf den Sockel der Sonnenuhr gesetzt hatte, merkte er, dass er nicht mehr Herr über seinen Körper war. Eine würgende Übelkeit peinigte ihn und seine Beine zuckten unkontrolliert. Wenn er jetzt aufstand und stürzte, würde er nicht wieder hochkommen. Es war der falsche Entschluss gewesen, so weit hinter das Haus zu gehen, anstatt im Dorf Hilfe zu suchen. Sein Herz raste. Ein Schmerz, als würde sich sein Inneres verflüssigen, wühlte durch seine Eingeweide. Er spürte, dass er nichts mehr bei sich behalten konnte, stemmte sich auf den Schirm und stand auf. Es kam wie eine Explosion. Der Durchfall floss ihm an den Beinen hinunter; zugleich krümmte ihn der Brechreiz. Für Scham war es zu spät; Angst trieb ihn auf den Weg. Er schaffte es bis zum Gartentor und dem Spalier der weißen Rosen. An ihrem Fuß brach er zusammen. Die Bauarbeiter fanden ihn dort am Montagmorgen.

    Linas Onkel Heinrich Weil war als armer Mann gestorben. Schon vor der Testamentseröffnung wusste sie, dass er ihr, ihrem Bruder Karl und einem Vetter, den sie kaum
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