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Marias Testament

Marias Testament

Titel: Marias Testament
Autoren: Colm Tóibín
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nicht so leicht sehen oder bemerken kann, wie wenn es Mittag oder Morgen wäre, bin ich stets wachsam, wie eine dieser mageren wilden Katzen, jederzeit bereit, beim leisesten Anzeichen von Gefahr davonzuschießen.
    An einem dieser Tage merkte ich, dass ich zu lange im Tempel geblieben war und, als ich auf die Lichtung hinaustrat, schon der Abend heraufzog. Ich wusste, ich würde mich beeilen müssen, um vor Einbruch der Dunkelheit zu Hause zu sein, denn die Nächte waren ganz schwarz mit gerade mal einem Scheibchen Mond, dessen Licht zu schwach sein würde, um mich zu leiten. Ich durfte also nicht den gewundenen Pfad einschlagen, den ich sonst immer nahm, sondern wählte einen möglichst geraden Weg und kletterte, so gut ich konnte, den kurzen steilen Hang hinauf, der mich in kürzerer Zeit heimführen würde.
    Und dann, im schwindenden Licht dieses Ortes, an den ich gekommen bin, um meine Tage zu beschließen, kam ich an Steinen vorbei, die ich noch nie gesehen hatte. Dünne Steinplatten, die wie Zähne aus der Erde ragten, als ob sie dort gewachsen wären. Als mir die Hüfte vom zu schnellen Gehen wehtat, stützte ich mich ohne Bedenken auf eine von ihnen. Aber dann ließ mich irgendein Tiergeräusch im Gras und Gesträuch herumfahren, und ich erschrak so sehr über das, was ich sah, dass ich fast davongerannt wäre. In den Stein waren zwei Gestalten gemeißelt, fast so groß wie ich selbst, und beide leuchteten in den letzten, schrägen Sonnenstrahlen, die auf das Weiße des Steines fielen und ihn glitzern ließen. Eine der Gestalten war ein junger, fast nackter Mann. Sein Gesichtsausdruck war friedvoll, treuherzig. Während das Licht intensiver zu werden schien, kam es mir so vor, als hätte er ohne weiteres aus dem Stein, in den er gemeißelt worden war, heraustreten und auf mich zukommen können. Trotz meines ersten Schreckens fürchtete ich mich nicht vor ihm. Neben ihm stand ein älterer Mann mit Bart, und seine Hand berührte sein Gesicht, und es war klar, dass er weinte, dass auch er einen Verlust erlebt hatte. Er war bekümmert; irgendetwas war geschehen, wovon der junge Mann nichts zu wissen schien. Vielleicht sind die Toten so, sie haben kein Bewusstsein, weder fehlt ihnen die Welt noch wissen sie, was hier bei uns geschieht. Wie ich da stand und beide Männer ansah – der junge, stellte ich mir vor, war tot und sein Vater am Leben und erfüllt von der Seelenqual derjenigen von uns, die noch in der Welt sind –, bemerkte ich, dass unter dem jungen Mann zusammengerollt ein Kind lag, das sich in Trauer, die wütender als die Trauer des Alten war, zu krümmen schien. Dann, als die Strahlen der Sonne sich tiefer legten, sah ich im zögernden Licht, dass rings um mich her überall solche Steine standen, mit eingemeißelten Figuren, Tieren und auch einigen Worten. Aus der Ferne hatten die Steine willkürlich ausgesehen, wie Dinge, die man einfach so zurückgelassen hatte, aber jetzt war klar, dass sie zu einem bestimmten Zweck hier aufgestellt worden waren, und die Skulpturen mussten eine besondere Bewandtnis haben, und während ich mich rasch von ihnen entfernte, wusste ich, dass sie für den Tod standen.
    *
    Es gibt Zeiten in diesen Tagen, ehe der Tod kommt und meinen Namen flüstert, mich ins Dunkel ruft, mich zur Ruhe lockt, da ich weiß, dass ich mehr von der Welt verlange. Nicht viel, aber mehr. Es ist ganz einfach. Wenn Wasser in Wein verwandelt werden kann und die Toten zurückgeholt werden können, dann will ich, dass sich die Zeit zurückdreht. Ich will noch einmal leben, bevor sich meines Sohnes Tod ereignete, oder bevor er von zu Hause wegging, als er noch ein Kleinkind war und sein Vater lebte und es Behagen in der Welt gab. Ich will einen dieser goldenen Sabbattage, Tage ohne Wind, an denen Gebete auf unseren Lippen lagen, an denen ich mich den Frauen anschloss und die Worte anstimmte, die flehentliche Bitte an Gott, Recht zu schaffen dem Armen und der Waisen, dem Elenden und Geringen zum Recht zu helfen, den Bedürftigen zu erretten, sie alle aus der Gewalt der Gottlosen zu erlösen. Wenn ich diese Worte zu Gott sprach, war es von Belang, dass mein Gatte und mein Sohn nahebei waren; dass bald, nachdem ich allein nach Haus gegangen war und mit verschränkten Händen im Schatten gesessen hatte, ich ihre heimkehrenden Schritte hören und ich das schüchterne Lächeln meines Sohnes gewärtigen würde, wenn sein Vater ihm die Tür aufmachte und wir dann schweigend sitzend darauf warten würden,
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