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Marias Testament

Marias Testament

Titel: Marias Testament
Autoren: Colm Tóibín
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immer schwächer wurde.
    Wir träumten beide, dass mein Sohn ins Leben zurückkehrte. Wir träumten beide, dass wir schliefen, und da war ein Brunnen aus Holz und Stein, ein Brunnen, der viel benutzt wurde, weil er tief in die Erde reichte und ein süßeres, kühleres, klareres Wasser spendete als andere Brunnen. Wir waren allein dort. Es war Morgen, aber noch war niemand zum Brunnen gekommen, da die Sonne gerade erst aufgegangen war. Wir schliefen beide an den Stein gelehnt. Vor uns lag kein Pfad, was seltsam war, und in der Ferne gab es einige Ölbäume, aber keinen, der nahebei stand, und keinerlei Geräusch, kein Vogelgesang oder Meckern von Ziegen, nichts. Wir beide, schlafend, noch in unseren Sachen, und das Licht der Frühe. Kein Anzeichen davon, dass unser Aufpasser in der Nähe war, und die Furcht und die hektische Eile der letzten Tage wie verflogen. Und plötzlich wurden wir beide vom Geräusch von aus der Erde emporgurgelndem Wasser geweckt, als ob jemand Unsichtbares gekommen wäre, Wasser zu holen, und das Wasser wie von selbst aufwallte und dann überfloss. Ich bin sicher, dass das Wasser überfloss und dass ich dadurch vollkommen wach wurde, da es mein Gewand durchnässte. Trotzdem stand ich nicht auf; stattdessen tauchte ich die Hand ins Wasser, um mich zu vergewissern, dass es wirklich passierte, und das tat es. Doch Maria stand auf, um sich vor dem Wasser zu schützen, und was sie sah, ließ sie nach Luft schnappen. Ich sah sie an, aber ich sah nicht, was sie sah, weil ich durch das Wasser so überrascht war, das inzwischen aus dem Brunnen zu schießen schien; es quoll in gewaltigen Stößen hervor und floss über den Rand und über ihn hinab auf die Bäume zu und sammelte sich nach und nach zu einem Bächlein.
    Und dann drehte ich mich um, und ich sah ihn, er war zu uns zurückgekehrt, er stieg mit dem Wasser empor, als ob dessen Kraft ihn aus der Erde heraufdrückte. Er war nackt, und die Stellen, an denen er verletzt worden war, an den Händen, den Füßen, den Beinen, da, wo die Knochen gebrochen worden waren, an der Stirn, wo die Dornen gesteckt hatten, waren blau gerändert und klafften offen. Sein übriger Körper war weiß. Als das Wasser ihn aus dem Brunnen hervorhob, ergriff ihn Maria und legte ihn mir quer auf den Schoß. Wir berührten ihn beide. Es war eine Weißheit, die uns beiden auffiel, eine Weißheit, die nur schwer zu beschreiben ist. Beide äußerten wir uns über ihre Reinheit und glatte, leuchtende Schönheit.
    In unserem Traum gab es Augenblicke, bevor wir aufwachten, in denen er die Augen öffnete, in denen er die Hände bewegte und dann die Arme, und beinahe stöhnte, aber beides sanft, sowohl die Bewegung als auch das Geräusch. Er schien frei von Schmerzen zu sein und jeglicher Erinnerung an das, was er durchgemacht hatte, beraubt. Doch die Male waren da an seinem Leib. Wir sprachen nicht zu ihm. Wir hielten ihn einfach, und er schien lebendig zu sein.
    Und dann war er still, oder er war tot, oder ich wachte auf, oder wir beide wachten auf. Und weiter war nichts. Wir konnten uns nicht zurückhalten, und so bekam unser Führer jedes Wort mit. Da änderte sich etwas in ihm, er fing an zu lächeln und sagte, er habe schon immer gewusst, dass das passieren würde, das sei Teil der Weissagung gewesen. Er ließ uns den Traum haarklein erzählen, und nachdem wir das mehrere Male getan hatten und er ihn auswendig gelernt zu haben schien, sagte er, wir seien jetzt außer Gefahr, es werde noch etwas geschehen, das uns zu unserem Bestimmungsort führen werde, was immer der auch sei. Da war eine Leichtigkeit in uns, eine Leichtigkeit, die vom Hunger und vielleicht auch von Angst verursacht war. Was immer es war, es machte uns frei.
    Ich wusste, und Maria wusste, dass wir aufs Geratewohl wanderten, und zu bestimmten Gelegenheiten begriff ich, dass wir sicherer gewesen wären, wenn Maria sich von uns getrennt und sich allein nach Hause begeben hätte. Später, als sich ein Haus für uns fand, konnten wir das mit größerer Ruhe besprechen. Wir wussten beide, dass ich nie wieder heimgehen konnte, dass ich mich nie wieder an einem Ort blicken lassen konnte, an dem man mich erkennen würde. Doch sie konnte, und ich wusste, dass sie es wollte. Aber diese ruhigen Tage endeten. Herbeigeführt wurde das Ende durch Essen, durch Ruhe und durch die Veränderung, die unser Führer durchmachte und die ihm etwas wie ein Leuchten verlieh. Dieses Leuchten hatte zur Folge, dass ein, zwei Leute,
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