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Marias Testament

Marias Testament

Titel: Marias Testament
Autoren: Colm Tóibín
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deswegen, weil ich es kann, weil genug geschehen ist und weil die Gelegenheit dazu vielleicht nie wiederkommen wird. Nicht mehr lange vielleicht, und ich werde wieder anfangen zu träumen, dass ich an dem Tag auf dem Hügel wartete und ihn, den Nackten, in den Armen hielt, nicht mehr lange, und dieser Traum, mir jetzt so nah und wirklich, wird die Luft erfüllen und rückwärts reisen durch die Zeit und so zu dem werden, was geschah, oder was geschehen sein muss – was geschah, was ich als geschehen weiß, was ich geschehen sah.
    Folgendes geschah. Sie hielten mich zwischen sich und rannten, und ich begriff, dass unser Aufpasser überhaupt keinen Plan hatte. Er wusste ebenso wenig wie wir, wo es hinging. In die Stadt konnten wir nicht zurück. Er hatte etwas Geld, aber zu essen hatten wir nichts. Mir kam der Gedanke, dass er uns nur zur Eile antrieb, um sich selbst zu retten, dass der großartige Plan zu meinem Schutz erst später hinzukam, aber während dieser Stunden nicht an erster Stelle stand. So wie sie jetzt arbeiten, meine Gäste, die hierherkommen, versuchen sie Zusammenhänge herzustellen, ein Muster, eine Bedeutung in alles hineinzuweben, und sie bitten mich um Hilfe, und ich werde ihnen helfen, so wie ich es schon getan habe – aber nicht jetzt. Jetzt weiß ich, wie beliebig alles war und ungewiss, und es sind Dinge auf jener Reise geschehen, an die ich selbst jetzt nicht zurückdenken mag. Ich weiß, dass wir uns damals nicht ehrenhaft verhielten, weil wir verzweifelt waren. Wir stahlen Kleidung, weil wir Kleidung brauchten, und ich stahl Schuhe, weil ich Schuhe brauchte. Wir stahlen kein Geld, und wir töteten niemanden. Ich glaube nicht, dass wir jemand töteten, aber es gab Dinge, die ich nicht mitbekam. Wir liefen so schnell wie wir konnten, und manchmal gab es nichts zu essen, und manchmal waren wir sicher, dass wir verfolgt wurden oder aufgefallen waren. Wir erzählten jedem, dem wir etwas erzählen mussten, wir seien Mutter mit Tochter und Schwiegersohn, und wir seien ohne Gepäck oder Esel unterwegs, weil mein Sohn uns mit allen unseren Habseligkeiten in einer Karawane vorausgegangen sei. Diese Lügen zählen nicht, vielleicht zählen selbst andere Dinge nicht, die wir notgedrungen während unserer Reise taten, aber sicher bin ich mir nicht.
    Schwer zu begreifen ist, dass unsere Träume zählen. So wie wir nach dem, was auf jenem Hügel geschehen war, zumindest anfänglich bei Nacht weiter vorankamen als bei Tag, ebenso bleibt das, was kam, während wir schliefen, drängender in mir, als es damals der Fall war. Es ist seltsam, dass es jetzt nicht zu zählen scheint, dass wir ein ganzes Haus, schutzlos und unschuldig, einsam auf dem Land gelegen, terrorisierten, und dass wir Essen und Kleidung und Schuhe raubten und drei Esel, die wir nach wenigen Stunden freiließen, und dass unser Aufpasser einen Mann, dessen Frau und deren Kinder fesselte und bedrohte, damit sie uns nicht folgten. Wir sahen es. Ich zog die Schuhe und die Kleider an, und mithilfe ihrer Esel kamen wir schneller voran. All das geschah.
    Ebenso geschehen ist aber der Traum, den wir hatten; Maria und ich hatten gemeinsam einen Traum. Ich hatte nicht gewusst, dass man einen Traum gemeinsam haben konnte. In den Jahren meiner Ehe träumte ein jeder für sich, obwohl wir dicht beieinanderlagen und uns im Laufe der Nacht häufig berührten. Träume gehören jedem von uns allein, ebenso wie der Schmerz. In diesen verzweifelten Tagen nun, wo wir manchmal hungerten und außer Atem waren und voller Angst, und wo Maria und ich begriffen, dass unser Aufpasser keinen Plan hatte, er uns einfach in Richtung Wasser oder Meer führte und sich auf sein Glück verließ, und dass mit jedem Tag, der verging, außer wir fanden ein Schiff oder Unterschlupf, unsere Aussichten, nicht gefasst zu werden, immer dürftiger wurden – in diesen Tagen blieben Maria und ich nah beieinander. Wir hielten uns beim Gehen bei der Hand; wir schliefen jede in den Armen der anderen, Wärme und Schutz suchend. Und beide wussten wir, dass, wären wir gefasst worden, man uns ermordet, gesteinigt oder erwürgt und dann verrotten lassen hätte. Wir wechselten kaum ein Wort mit unserem Aufpasser und schafften es kaum, unsere Verachtung gegen ihn zu verbergen, so groß war unsere Furcht, jetzt, nach alldem, noch gefasst zu werden, so groß war unsere Wut, von einem Mann in die Wildnis gelockt worden zu sein, der unkundig war und dessen Arroganz vor Hunger und Erschöpfung
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