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Marias Testament

Marias Testament

Titel: Marias Testament
Autoren: Colm Tóibín
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begreifen oder nachzudenken. Keine Zeit, sich umzusehen oder Möglichkeiten zu finden, sich ablenken zu lassen. In dieser letzten Stunde schien die Qual, mit Nägeln in den Händen und Füßen in der Sonne zu hängen, intensiver zu werden, sie kam in tierhaften spitzen Schreien und dann keuchend. Und wir alle warteten, wir alle wussten, dass das Ende nahte, und wir alle betrachteten sein Gesicht, seinen Körper, nicht sicher, ob er wusste, dass wir bei ihm waren, bis kurz vor dem Ende, als er die Augen zu öffnen schien und zu sprechen versuchte, aber keiner von uns seine Worte verstand, die zu angestrengt hervorkamen, als dass jemand sie hätte hören können. Sie dienten nur dem Zweck, uns wissen zu lassen, dass er am Leben war, und seltsamerweise, trotz der Schmerzen, die er litt, trotz dieser gewaltigen öffentlichen Zurschaustellung seiner Niederlage und der Tatsache, dass ich mir die ganze Zeit verzweifelt gewünscht hatte, es möchte schnell vorbei sein, wollte ich jetzt nicht, dass es vorbei war.
    Als es auf das Ende zuging, sagte unser Aufpasser – sein Anhänger, der, der hierherkommt, der für meine Ausgaben aufkommt und meine Angelegenheiten regelt –, dass wir, sobald er gestorben sei, würden schnell gehen müssen, dass andere kommen und sich um die Waschung seines Leichnams und seine Bestattung kümmern würden, dass es an der anderen Seite des Hügels einen Pfad gebe, und wenn wir bereit seien, einzeln in die Richtung zu gehen, er unsere Flucht gewährleisten könne, aber selbst wenn wir flohen, sagte er, werde uns jemand folgen oder sich auf die Suche nach uns machen, also würden wir nachts reisen müssen, beim Licht des Mondes und der Sterne, und uns tagsüber, wo immer wir konnten, verstecken. Ich sah ihn an, während er sprach, und ich sah etwas, was ich auch jetzt noch in ihm sehe – keinen Kummer, kein Leid, keine Gefühlsduselei, sondern etwas Kaltes, als ob das Leben ein Geschäft sei, das es zu führen galt, dass unsere Zeit auf Erden Planung erforderte und Steuerung und kluge Vorausschau.
    »Er ist noch nicht tot«, sagte ich zu ihm. »Er ist noch nicht tot. Ich werde bei ihm bleiben, bis er stirbt.«
    Einen Moment lang blickte ich hinüber zu den Männern, die abseits standen. Ich bemerkte, dass Markus fehlte, und der Mann, der mir gefolgt war, fehlte ebenfalls. Erst schaute ich mich verdutzt um, ob sie vielleicht gerade weggingen oder sich zu einer anderen Gruppe gesellt hatten. Dann sah ich sie, beide, und sie standen bei dem Mann, der auf der Hochzeit zu Kana gewesen war, dem Würger, und sie deuteten auf mich und Maria und unseren Aufpasser, hoben uns aus der Menge hervor. Der Würger schaute und nickte gelassen, als nacheinander auf jeden von uns gezeigt wurde. Später, als die Jahre vergingen, würde ich mir sagen, dass ich die Entscheidung um Marias willen getroffen hatte, dass mir bewusst wurde, dass ich sie dorthin geführt hatte und dass ich jetzt der Grund dafür sein würde, dass sie erwürgt wurde. Ich erinnere mich, was Markus mir gesagt hatte: der Mann könnte es völlig geräuschlos tun und ohne eine Spur zu hinterlassen. Aber es war nicht die Möglichkeit, dass Maria erwürgt würde, oder das Bild ihres Körpers, der sich dabei wand und wehrte, als seine Daumen sich um den Nacken drückten, um ihn zu brechen, die mich veranlassten, zu unserem Aufpasser zu laufen und ihm zu sagen, dass wir jetzt gehen müssten. So gehen, wie er gesagt hatte – verstohlen und jeder für sich, eilig die Nacht hindurch wandernd, bis wir vielleicht irgendwo in Sicherheit sein würden. Es ging um meine eigene Sicherheit, dachte ich, darum mich selbst zu schützen. Ich hatte plötzlich Angst, und viel größere Angst als in diesen Stunden davor, da ich spürte, dass die schleichende Gefahr mich fast erreicht hat.
    Erst jetzt kann ich es zugeben, erst jetzt erlaube ich mir, es zu sagen. Jahrelang habe ich mich mit dem Gedanken getröstet, wie lang ich dort geblieben war, wie sehr ich dort gelitten hatte. Aber ein Mal muss ich es sagen, muss ich die Worte herauslassen, dass trotz der Panik, trotz der Verzweiflung, der Schreie, obwohl sein Herz und sein Fleisch aus meinem Herzen und meinem Fleisch hervorgegangen waren, trotz des Schmerzes, den ich verspürte, einen Schmerz, der niemals nachgelassen hat und mich weiter begleiten wird bis ins Grab – trotz alldem muss ich zugeben, dass es
sein
Schmerz war und nicht meiner. Und als sich die Aussicht ergab, fortgeschleppt und erdrosselt zu werden,
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