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Marias Testament

Marias Testament

Titel: Marias Testament
Autoren: Colm Tóibín
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war mein erster Instinkt zu fliehen – und es war auch mein letzter Instinkt. Während dieser Stunden war ich machtlos, aber obwohl ich von Kummer zu Kummer taumelte, die Hände rang, mich an den anderen festhielt, voll Entsetzen zusah, wusste ich jetzt, was ich tun würde. Wie unser Aufpasser sagte, würde ich es anderen überlassen, seinen Leichnam zu waschen, ihn zu halten und ihn zu bestatten, wenn sein Tod gekommen wäre. Wenn es sein musste, würde ich ihn allein sterben lassen. Und genau das tat ich. Sobald ich mein Einverständnis erklärt hatte, schlich Maria als Erste davon, und wir sahen ihr aus dem Augenwinkel nach. Ich sah die Gestalt am Kreuz kein einziges Mal mehr an. Vielleicht hatte ich genug gesehen. Vielleicht tat ich recht daran, mich selbst zu retten, solange ich das noch konnte. Aber es fühlt sich jetzt nicht so an, und hat es auch nie. Aber ich werde es jetzt sagen, denn wenigstens ein Mal muss es jemand sagen: Ich tat es, um mich selbst zu retten. Ich tat es aus keinem anderen Grund. Ich sah, wie unser Aufpasser davonschlich, und stellte mich blind. Ich ging auf das Kreuz zu, als wollte ich mich ihm zu Füßen setzen und händeringend auf seine letzten Augenblicke warten. Und dann huschte ich weiter nach hinten. Ich tat so, als suchte ich etwas oder jemand oder einen Ort, wo ich mich erleichtern könnte, ohne sofort gesehen zu werden. Und dann folgte ich unserem Aufpasser und Maria die andere Seite des Hügels hinunter, langsamen Schritts mich entfernend.
    Ich habe geträumt, ich sei dort. Ich habe geträumt, dass ich meinen zerschlagenen Sohn in den Armen hielt, als er ganz blutig war, und dann wieder, als er gewaschen war, dass ich ihn wiederhatte, dass ich sein Fleisch berührte und meine Hände an sein Gesicht legte, das jetzt, wo sein Leiden vorbei war, eine hagere Schönheit gewonnen hatte. Ich berührte seine Füße und Hände dort, wo die Nägel gewesen waren. Ich zog die Dornen aus seinem Kopf und wusch ihm das Blut aus dem Haar. Sie ließen mich mit ihm allein, die anderen, Maria und der Aufpasser, aber auch die anderen, die gekommen waren, um am Ende bei ihm zu sein, die sich in Gefahr begeben hatten, indem sie ihren Glauben an ihn bezeugten. Und man ließ uns dort bei ihm. Da das grausige widerwärtige Werk vollbracht war – ein Mann dazu gebracht worden war, ausgespreizt vor dem Himmel, auf einem Hügel zu sterben, auf dass die Welt wüsste und sähe und sich erinnerte –, hatten die, die ihn zu Tode brachten, keinen weiteren Anlass zu bleiben. Sie aßen und tranken irgendwo oder warteten auf ihre Entlohnung. So wurde der wimmelnde Hügel, jener Ort der Grausamkeit und nüchternen Tatsachen, den nicht lange zuvor noch Rauch und Geschrei erfüllten, auf einmal mild, zu einem Ort der Trauer. Wir hielten ihn und berührten ihn, der er zugleich schwer und gewichtslos war, jegliches Blut aus seinem Leib gewichen, sein Leib wie Marmor oder Elfenbein in seiner kostbaren Blässe. Sein Körper wurde allmählich steif und leblos, aber ein anderer Teil von ihm, den er uns in jenen letzten Stunden gegeben hatte und der aus seinem Leiden hervorgegangen war, schwebte in der Luft um uns wie etwas Süßes, das uns Trost gab.
    Das habe ich geträumt. Und es hat Zeiten gegeben, da ich den Traum an den Tag kommen ließ, damit er mit mir lebte, da ich auf dem Stuhl dort gesessen und gemeint habe, ihn zu halten, sein Körper ganz geläutert von Schmerz und auch ich geläutert von dem Schmerz, den ich spürte, der Teil seines Schmerzes war, der Schmerz, den wir teilten. Das alles ist leicht vorstellbar. Das, was wirklich geschah, ist unvorstellbar, und ebendem muss ich mich in diesen Monaten, bevor ich ins Grab sinke, stellen, sonst wird alles, was geschehen ist, zu einer reizenden Geschichte werden, die vergiftet, so wie tief an Bäumen hängende leuchtende Beeren vergiften können. Ich weiß nicht, warum es von Belang sein sollte, dass die Wahrheit wenigstens ein Mal in der Welt ausgesprochen wird. Denn die Welt ist ein Ort des Schweigens, der Himmel ist nachts, wenn die Vögel verschwunden sind, ein einziger schweigender Ort. Worte werden am Himmel der Nacht nicht das mindeste ändern. Sie werden ihn nicht erhellen oder weniger fremd machen. Und auch der Tag hegt seine eigene tiefe Gleichgültigkeit gegen alles Gesagte.
    Ich sage nicht deswegen die Wahrheit, weil sie die Nacht zum Tage machen kann oder die Tage in ihrer Schönheit tröstend für uns dehnt, die wir alt sind. Ich spreche einfach
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