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Marias Testament

Marias Testament

Titel: Marias Testament
Autoren: Colm Tóibín
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völlige Fremde, und dann andere, die wussten, dass er ein Anhänger gewesen war, anboten, ihm zu helfen. Durch sie konnte er einen Hilferuf losschicken; und dann konnte er uns mitteilen, dass wir bald in Sicherheit sein würden, dass ein Boot uns abholen und nach Ephesus bringen würde, wo ein Haus auf uns wartete, ein Haus, in dem wir immer in Sicherheit sein würden. Es war ihm unbegreiflich, dass die Annehmlichkeiten, die er uns bot, nichts an dem Kummer zu ändern schienen, der uns jetzt überfiel, der Erschütterung und der Scham über das, was wir getan hatten. Wir hatten es anderen überlassen, ihn zu bestatten, oder vielleicht war er auch gar nicht bestattet worden. Wir waren an einen Ort geflohen, wo das, was in unseren Träumen geschehen war, mehr Fleisch angenommen hatte, mehr Substanz besaß als das, was wir bewusst, gegenwärtig, wach erlebten. Und das schien ein paar Tage lang richtig zu sein, und vielleicht hofften wir beide, dass auch die Zukunft mit Träumen ausgekleidet sein würde; und dann brach alles in sich zusammen, vollständig, und ich begriff, dass Maria gehen wollte, dass sie nicht länger bei mir sein wollte. Ich wusste, was geschehen würde, und es geschah: Als ich eines Morgens aufwachte, war sie einfach nicht mehr da. Da sie nun einmal gehen wollte, hatte unser Führer ihr dazu verholfen. Es war nicht die Zeit, in der Abschiede erforderlich gewesen wären oder irgendetwas geändert hätten. Es störte mich nicht, wie sie gegangen war. Aber jetzt war ich allein mit ihm, und ich würde sehr bald eine Weise finden müssen, mit ihm umzugehen. Ich musste außerdem klare Grenzen ziehen. Von da an sollten Träume ihren richtigen Platz haben, sollten zur Nacht gehören. Und das, was geschah, was ich sah, was ich tat, sollte zum Tag gehören. Ich hoffte, dass ich imstande sein würde, bis zu meinem Tod im vollen Bewusstsein des Unterschieds zwischen den beiden zu leben. Ich hoffe, das ist mir gelungen.
    *
    Jetzt ist es Tag, und das, was hier in dieses Zimmer hereinkommt, heißt Licht. Was seltsam war, als wir auf das Schiff stiegen, das mich hierherbrachte und durch Stürme und ruhige Meere beförderte, war mein neu entstandener Hunger nach Katastrophen, die Tatsache, dass ich, als wir an Bord gingen, das verzweifelte Bedürfnis verspürte, so als hinge mein Seelenfrieden davon ab, dass unser Führer oder einer unserer Helfer ins Wasser fiele und um Hilfe schrie und verschwände und wiederauftauchte, um dann später gesehen zu werden, wie er tot davontrieb. Ich wollte es wiederhaben, was immer »es« sein mochte. Ich sah es nicht selbst, sondern als Bild oder als schlichte Gedächtnishilfe. Wenn ich einen Mann sah, sah ich einen gewaltsamen Tod, und ich hatte das Gefühl, dass ich jetzt in der Verfassung wäre, ihn mit anzusehen. Es war so wie bei einem Tier, das in der Wildnis gewesen ist, und weiß, was zu erwarten oder zu tun ist, wenn eine freundliche Hand ihm in der Annahme, es wäre zahm, Futter anbietet. Ich war durch das, was ich gesehen hatte, verwildert, und nichts hat das je wieder ändern können. Was ich bei Tageslicht sah, raubte mir das Gleichgewicht, und keine Dunkelheit wird das jemals lindern oder das, was es mir antat, leichter machen.
    Ich gehe nicht oft aus dem Haus. Ich bin vorsichtig und wachsam; seit die Tage kürzer und die Nächte kalt sind, bemerke ich, wenn ich aus dem Fenster schaue, neuerdings etwas, das mich überrascht und gebannt hält. Das Licht hat etwas Übermäßiges. Es ist so, als ob, da es knapper wird, seine Zeit sich verkürzt, in der es sein Gold über uns ergießen kann, es etwas Intensiveres entfesselt, etwas, das von einer fröstelnden Klarheit erfüllt ist. Und wenn es anfängt zu verblassen, scheint es wie mit dem Rechen gezogene Schatten auf allem zu hinterlassen. Und während dieser Stunde, der Stunde des Zwielichts, habe ich keine Bedenken hinauszuschlüpfen und die schwere Luft zu atmen, wenn die Farben verblassen und der Himmel sie einzuholen, sie heimzurufen scheint, bis sich, nach und nach, nichts mehr abzeichnet in der Landschaft. Es tut mir gut, und es gibt mir das Gefühl, fast unsichtbar zu sein, während ich mich auf den Weg zum Tempel mache, um ein paar Minuten lang dicht bei einer der Säulen zu stehen und zuzusehen, wie sich die Schatten vertiefen und alles sich für die Nacht rüstet.
    Mit den Bewegungen einer Katze bleibe ich stehen und taste mich vorwärts und bleibe dann wieder stehen. Obwohl ich das Gefühl habe, dass man mich
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