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Marias Testament

Marias Testament

Titel: Marias Testament
Autoren: Colm Tóibín
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dass die Sonne unterging und wir wieder reden könnten und miteinander essen und uns mit Behagen rüsteten für die friedvolle Nacht nach dem Tag, an dem wir uns erneuert hatten, an dem unsere Liebe zueinander und zu Gott und zu der Welt tiefer und umfassender geworden war.
    Das ist jetzt vorbei. Der Junge wurde zu einem Mann und verließ das Elternhaus und er starb am Kreuz. Ich möchte mir vorstellen können, dass das, was ihm geschah, nicht kommen wird, dass es uns sehen und sagen wird: nicht jetzt, nicht die. Und uns gestattet sein wird, in Frieden alt zu werden.
    *
    Sie werden wiederkommen, meine Aufpasser, meine Wächter. Sie lassen mich jedenfalls beobachten. In ein paar Tagen werden sie wissen, dass ich so wie jetzt im Morgengrauen aufwachte und in diesem Zimmer stand. Jemand wird einen Schatten gesehen haben, etwas durchs Fenster, oder ein Geräusch gehört haben. Ich bin hier nicht allein. Vielleicht bezahlen sie Farina dafür, dass sie mich beobachtet und über mich Bericht erstattet, oder drohen ihr mit etwas, wenn sie es nicht tut. Oder es könnte auch eine von den anderen sein, an denen ich vorübergehe, ohne sie anzusprechen. Es spielt keine Rolle.
    Und jedes Mal fangen wir wieder von vorn an, und jedes Mal sind sie erst aufgeregt wegen irgendeines Details und regen sich dann über irgendetwas anderes auf, das kurz danach kommt, ein weiteres Detail vielleicht, meine Weigerung, etwas hinzuzufügen, was sie von mir hören möchten, oder meine Kritik, die ich über ihren Ton oder ihre Bemühungen äußere, eine einfache Lehre aus Dingen zu ziehen, die nicht einfach sind.
    Aber vielleicht sind die Dinge ja doch einfach. Vielleicht werden sie, wenn ich sterbe, und ich werde bald sterben, noch einfacher werden. Es wird so sein, als sei das, was ich sah oder empfand, nicht geschehen, oder auf die gleiche Weise geschehen, wie ein kleiner Flügelschlag eines Vogels hoch am Himmel geschieht an einem Tag, an dem kein Wind weht. Sie wollen dafür sorgen, dass das, was geschah, für immer weiterlebt – so haben sie gesagt. Was aufgeschrieben wird, sagen sie, wird die Welt verändern.
    »Die Welt?«, fragte ich. »Ganz und gar?«
    »Ja«, sagte der Mann, der mein Führer gewesen war, »ganz und gar.«
    Ich muss verdutzt dreingeschaut haben.
    »Sie versteht nicht«, sagte er zu seinem Gefährten, und es stimmte. Ich verstand nicht.
    »Er war wahrhaft der Sohn Gottes«, sagte er.
    Und dann begann er, mir geduldig zu erklären, was bei der Empfängnis meines Sohnes mit mir geschehen sei, während der andere nickte und ihn bestätigte. Ich hörte kaum hin. Ich hatte anderes zu tun. Ich weiß, was geschah. Ich weiß, dass sich meine eigene Freude während dieser ersten Monate, da ich schwanger war, fremd und besonders anfühlte, dass die Weise meines Lebens sich änderte, dass ich oft am Fenster stand und auf das Licht draußen sah und spürte, dass das neue Leben in mir, der Schlag des zweiten Herzens, mich mehr erfüllte als alles, was ich mir jemals vorgestellt hatte. Später erfuhr ich, dass das genau die Weise ist, wie wir alle uns darauf vorbereiten, zu gebären und zu nähren – dass diese Empfindung aus dem Körper kommt und ihren Weg in die Seele findet und sich nicht gewöhnlich anfühlt. Also lächelte ich, wenn sie sprachen, denn sie schienen etwas von dem Licht und der Gnade zu wissen, die zu jener Zeit kamen, und zur Abwechslung einmal gefiel es mir, wie eifrig und sicher sie waren.
    Erst als sie zum letzten Teil kamen, stand ich vom Stuhl auf und entfernte mich von ihnen, als hätten ihre Worte mir Gewalt angetan.
    »Er starb, um die Welt zu erlösen«, sagte der andere. »Sein Tod hat die Menschheit vor der Finsternis und der Sünde gerettet. Sein Vater hat ihn in die Welt gesandt, auf dass er am Kreuze leiden möchte.«
    »Sein Vater?«, fragte ich. »Sein Vater –?«
    »Sein Leiden war notwendig«, unterbrach er. »Genau so würde die Menschheit errettet werden.«
    »Errettet?«, fragte ich und hob die Stimme. »Wer wurde errettet?«
    »Jene, die vor ihm kamen, und jene, die jetzt leben, und jene, die noch nicht geboren sind«, sagte er.
    »Vor dem Tod gerettet?«, fragte ich.
    »Für das ewige Leben errettet«, sagte er. »Jeder Mensch auf Erden wird das ewige Leben erfahren.«
    »Ach so, das ewige Leben!«, erwiderte ich. »Ach so, jeder Mensch auf Erden!«
    Ich sah sie beide an, und ihre Blicke waren verschleiert, und etwas Dunkles erschien in ihren Gesichtern.
    »Das also war der Sinn des
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