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Marias Testament

Marias Testament

Titel: Marias Testament
Autoren: Colm Tóibín
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war all die Jahre lang in allen Einzelheiten Teil von mir, so wie meine Hände oder meine Arme. An jenem Tag, dem Tag, über den er Einzelheiten erfahren wollte, dem Tag, den ich ihm immer und immer wieder schildern sollte, da trat inmitten all des Durcheinanders, inmitten all des Grauens und der Aufschreie und des Gebrülls ein Mann in meine Nähe, der einen Käfig mit einem eingesperrten riesigen zornigen Vogel bei sich hatte: Man sah nur den scharfen Schnabel und seinen wütenden Blick; die Schwingen konnte er nicht zu ihrer vollen Spannweite ausstrecken, und das schien den Vogel zornig und wütend zu machen. Er hätte fliegen, jagen, auf seine Beute niederstoßen sollen.
    Der Mann trug außerdem einen Sack, der, wie ich langsam merkte, halb voll mit lebenden Kaninchen war, Bündelchen unbändiger und panischer Energie. Und während jener Stunden auf jenem Hügel, während der Stunden, die langsamer vergingen als jede andere Stunde zuvor, pflückte er die Kaninchen eines nach dem anderen aus dem Sack und schob sie in den nur leicht geöffneten Käfig. Der Vogel machte sich als Erstes immer an den weichen Unterbauch und riss das Kaninchen auf, bis seine Eingeweide herausquollen, und dann kamen natürlich die Augen dran. Es ist leicht, jetzt darüber zu sprechen, weil es eine gewisse Ablenkung von dem bot, was tatsächlich vor sich ging, und es ist auch deswegen leicht, darüber zu sprechen, weil es so sinnlos war. Der Vogel war anscheinend nicht hungrig – obwohl ihn vielleicht ein tieferer Hunger quälte, den selbst das lebendige Fleisch der sich windenden Kaninchen nicht stillen konnte. Schließlich war der Käfig voll mit halb toten, unverzehrten Kaninchen, die seltsame quiekende Laute von sich gaben. Sie zuckten; die letzten Lebenszeichen. Und das Gesicht des Mannes leuchtete vor Energie, es ging ein Glanz von ihm aus, wenn er in den Käfig sah und dann auf seine Umgebung, fast lächelte er vor finsterer Freude darüber, dass der Sack noch nicht leer war.
    *
    Mittlerweile hatten wir von anderen Dingen gesprochen, unter anderem von den Männern, die nah bei den Kreuzen Würfel spielten; sie spielten um seine Kleider und anderen Habseligkeiten oder aus einem anderen nicht erkennbaren Grund. Einen dieser Männer fürchtete ich ebenso sehr wie den Würger, der später hinzukam. Unter all denen, die im Laufe des Tages kamen und gingen, war er derjenige, der am wachsamsten mir gegenüber war, der am bedrohlichsten wirkte, als wollte er wissen, wohin ich gehen würde, wenn es vorbei wäre, als wäre er derjenige, den man aussenden würde, um mich zurückzubringen. Dieser Mann, der mir mit seinen Augen folgte, arbeitete offenbar für die Gruppe von Männern mit Pferden, die manchmal vom Rand aus zuzuschauen schienen. Wenn jemand weiß, was an jenem Tag geschah, und warum, dann dieser Mann, der Würfel spielte. Man würde mich besser verstehen, wenn ich sagte, dass er in meinen Träumen erscheint, aber das tut er nicht, ebenso wenig verfolgt er mich, so wie andere Dinge oder andere Gesichter mich verfolgen. Er war dort, das ist alles, was ich über ihn zu sagen habe, und er beobachtete mich, und er kannte mich, und wenn er heute, nach all den Jahren, an dieser Tür erschiene, seine Augen wegen des Lichts zu Schlitzen verengt, sein sandfarbenes Haar ergraut und seine Hände noch immer zu groß für seinen Körper, mit dieser Miene von Überlegenheit, Selbstbeherrschung und kontrollierter Grausamkeit, den bösartig grinsenden Würger hinter sich, wäre ich nicht überrascht. Doch ich würde ihre Gesellschaft nicht lange ertragen. So wie meine zwei Freunde, die mich besuchen, auf meine Stimme, mein Zeugnis aus sind, können dieser Mann, der Würfel spielte, und der Würger, oder andere von ihrer Sorte, nur mein Schweigen wollen. Sollten sie kommen, werde ich sie erkennen, und es dürfte jetzt eigentlich keine Rolle mehr spielen, denn meine Tage sind gezählt, aber in meiner wachen Zeit fürchte ich mich immer noch verzweifelt vor ihnen.
    Im Vergleich zu ihnen war der Mann mit den Kaninchen und dem Habicht seltsam harmlos; er war grausam, aber ohne Zweck. Seine Triebe waren leicht zu befriedigen. Niemand außer mir schenkte ihm die geringste Beachtung, und ich tat es, weil ich vermutlich die einzige Anwesende war, die auf alles achtete, was sich bewegte – nur für den Fall, dass es mir gelänge, unter jenen Männern jemanden auszumachen, den ich anflehen könnte. Und um darauf vorbereitet zu sein, was sie vielleicht von
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