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Marias Testament

Marias Testament

Titel: Marias Testament
Autoren: Colm Tóibín
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in täglichem Gebrauch, aber er kam zu einer Zeit durch diese Tür, da ich das verzweifelte Bedürfnis hatte, mich an gewisse Jahre zu erinnern, in denen ich die Liebe gekannt hatte. Er musste unbenutzt bleiben. Er gehört der Erinnerung an, er gehört einem Mann, der nicht wiederkehren wird, dessen Leib Staub ist, aber der einst ein Herrscher in meiner Welt war. Er wird nicht zurückkommen. Ich behalte den Stuhl im Zimmer, weil er nicht zurückkommen wird. Ich brauche kein Essen für ihn bereitzuhalten oder Wasser, oder ihm einen Platz in meinem Bett frei zu halten, oder irgendwelche Neuigkeiten zu sammeln, die ihn vielleicht interessieren könnten. Ich halte den Stuhl leer. Es ist nicht viel, und manchmal sehe ich ihn im Vorbeigehen an, und das ist alles, was ich tun kann, vielleicht ist es genug, und vielleicht wird eine Zeit kommen, wo ich kein solches Andenken an ihn, so nah bei mir, mehr nötig haben werde. Vielleicht wird sich die Erinnerung an ihn, wenn ich meine letzten Tage antrete, tiefer in mein Herz zurückziehen, und ich werde die Unterstützung irgendwelcher Gegenstände im Zimmer nicht mehr brauchen.
    Ich erkannte an ihrer Grobheit, an der Weise, wie sie hereinkamen, so als fielen sie in den Raum ein, dass sich einer von ihnen diesen Stuhl aussuchen und es so beiläufig erscheinen lassen würde, dass es schwer zu unterbinden wäre. Aber ich lag auf der Lauer.
    »Setz dich nicht auf diesen Stuhl«, sagte ich, als er den Tisch verrückt hatte und den Stuhl herzog, den ich sorgfältig gegen die Wand geschoben hatte, damit meine Besucher ihn nicht entweihten. »Du kannst den daneben nehmen, aber den da nicht.«
    »Ich darf einen Stuhl nicht benutzen?«, erkundigte er sich in einem Ton, als spräche er mit einer Idiotin. »Wozu sind Stühle denn sonst da? Ich darf mich nicht auf einen Stuhl setzen?« Der Ton war jetzt eher unverschämt als bedrohlich, aber er enthielt einen Beigeschmack von Drohung.
    »Niemand setzt sich auf diesen Stuhl«, sagte ich leise.
    »Niemand?«, fragte er.
    Ich ließ meine Stimme noch leiser werden.
    »Niemand«, erwiderte ich.
    Meine zwei Besucher sahen sich an. Ich wartete. Ich wandte mich nicht von ihnen ab, und ich bemühte mich, sanftmütig zu wirken, wie jemand, mit dem sich nicht – schon gar nicht wegen einer Marotte, einer Weiberlaune – zu streiten lohnte.
    »Warum nicht?«, fragte er liebenswürdig-sarkastisch.
    »Warum nicht?«, fragte er noch einmal, als wäre ich ein Kind.
    Ich bekam jetzt kaum noch Luft und legte die Hände auf die Lehne des Stuhls, der mir am nächsten stand, und an der Weise, wie ich atmete, und an der plötzlichen Langsamkeit meines Herzschlags erkannte ich, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis alles Leben in mir, das wenige verbleibende, abstürbe, so wie eine Flamme an einem milden Tag ganz leicht verlischt und schon die leiseste Andeutung eines Windes genügt, ein plötzliches Flackern, und dann aus, weg, als habe sie niemals gebrannt.
    »Setz dich nicht darauf«, sagte ich leise.
    »Aber du musst erklären warum«, sagte er.
    »Der Stuhl«, sagte ich, »bleibt für jemanden frei, der nicht wiederkommen wird.«
    »Aber er wird wiederkommen«, sagte er.
    »Nein«, erwiderte ich, »wird er nicht.«
    »Dein Sohn wird wiederkommen«, sagte er.
    »Der Stuhl ist für meinen Ehemann«, erwiderte ich, als sei nun er der Idiot. Ich lächelte, als ich das sagte, als ob das bloße Aussprechen des Wortes »Ehemann« irgendetwas ins Zimmer zurückgeholt hätte, oder den Schatten von etwas, genug für mich jedenfalls, aber nicht genug für sie. Und dann machte er Anstalten, sich auf den Stuhl zu setzen, er drehte ihn zu sich herum, er schickte sich an, den Rücken zu mir gewandt, sich daraufzuhocken.
    Ich hatte es erwartet. Rasch fand ich das scharfe Messer, packte es und berührte die Klinge. Ich richtete es nicht auf sie, aber die Bewegung, mit der ich danach gegriffen hatte, war so schnell und so jäh gewesen, dass ich jetzt die Aufmerksamkeit der beiden hatte. Ich lächelte sie an und sah dann hinunter auf die Klinge.
    »Ich habe noch eines versteckt«, sagte ich, »und wenn einer von euch den Stuhl noch einmal anrührt, es wagt, ihn auch nur anzurühren, werde ich warten, ich warte jetzt schon, und ich werde während der Nacht kommen, ich werde mich so lautlos wie die Luft bewegen, und euch wird keine Zeit bleiben, einen Ton von euch zu geben. Zweifelt keinen Augenblick daran, dass ich es tun werde.«
    Dann wandte ich mich ab, als ob mich
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