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Marias Testament

Marias Testament

Titel: Marias Testament
Autoren: Colm Tóibín
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Zunge zu sagen, das wüsste ich besser als sie, und wenn sie nur gekommen seien, um mir unnötige Ratschläge zu geben, dann sollten sie sich vielleicht überlegen, künftig wegzubleiben.
    Allmählich jedoch begann ich sie wahrzunehmen, wenn ich an ihrem Haus vorbeikam und sie gerade an der Tür stand, und sie gefiel mir. Es lag auch daran, dass sie klein war, jedenfalls kleiner als ich, und sogar schwächer aussah, obwohl sie jünger ist. Ich nahm an, sie wäre allein, und war überzeugt, dass ich mit ihr fertig werden würde, sollte sie Probleme machen oder zu aufdringlich werden. Aber sie ist nicht allein. Das habe ich herausbekommen. Ihr Mann liegt immer im Bett, kann sich nicht bewegen, und sie muss sich den ganzen Tag um ihn kümmern; er liegt in einem verdunkelten Zimmer. Und ihre Söhne sind, wie alle Söhne, in die Stadt gezogen, um bessere Arbeit zu finden, zu faulenzen oder Abenteuern nachzugehen, womit es Farina überlassen bleibt, die Ziegen zu hüten und nach den Ölbaumterrassen zu sehen und jeden Tag Wasser zu holen. Ich habe ihr klargemacht, dass ihre Söhne, sollten sie jemals herkommen, nicht über meine Schwelle dürfen. Ich habe ihr klargemacht, dass ich keinerlei Hilfe von ihnen will. Ich will sie nicht in diesem Haus haben. Es kostet mich immer Wochen, den Gestank von Männern aus den Räumen zu vertreiben, sodass ich wieder Luft atmen kann, die nicht von ihnen verpestet worden ist.
    Ich begann, wenn ich sie sah, mit dem Kopf zu nicken. Ich sah sie nach wie vor nicht an, aber ich wusste, dass sie die Veränderung bemerken würde. Und das veränderte dann andere Dinge. Anfangs war es schwierig, weil ich sie nicht so gut verstand, was sie seltsam fand, aber das hemmte nie ihren Redefluss. Aber schon bald konnte ich den meisten ihrer Worte folgen, und ich erfuhr, wohin sie jeden Tag ging, und warum sie dorthin ging. Ich begleitete sie, nicht weil ich es gewollt hätte. Ich tat es, weil meine Besucher, die Männer, die hierherkommen, um meine letzten Jahre zu beaufsichtigen, immer länger blieben, als mir lieb war, und zu viele Fragen stellten. Ich dachte, wenn ich gelegentlich verschwand, selbst für ein, zwei Stunden, würden sie vielleicht Manieren lernen oder, besser noch, endlich verschwinden.
    Ich glaubte nicht, dass sich der verfluchte Schatten dessen, was geschehen war, jemals verziehen würde. Er kam wie etwas in mein Herz, das im selben Maße wie Blut Finsternis durch mich pumpte. Er war mein Gefährte, mein seltsamer Freund, der mich nachts aufweckte, und noch einmal am Morgen, und den ganzen Tag über dicht bei mir blieb. Er war eine Schwere in mir, die oft zu einer unerträglichen Last wurde. Manchmal wurde sie leichter, aber ganz verließ sie mich nie.
    Zum Tempel begleitete ich Farina ohne besonderen Grund. Und sobald wir aufbrachen, genoss ich auch schon den Gedanken an die Diskussionen nach meiner Rückkehr, die Fragen, wo ich gewesen war, und legte mir zurecht, was ich meinen Besuchern über meinen Verbleib sagen würde. Unterwegs sprachen wir nicht, und erst als wir uns nahegekommen waren, sagte Farina einmal, dass sie, wenn sie dorthin ging, immer nur um drei Dinge bat – dass die Götter ihren Mann in den Tod nehmen mögen, bevor er noch mehr leidet; und dass ihre Söhne bei guter Gesundheit bleiben und dass sie gut zu ihr sein möchten. Willst du das Erste wirklich?, fragte ich. Dass dein Ehemann stirbt? Nein, sagte sie, tue ich nicht, aber es wäre das Beste. Und es war ihr Gesicht, der Ausdruck in ihm, eine Art Glanz und Güte in ihren Augen, als wir den Tempel betraten, was mir im Gedächtnis blieb.
    Und ich erinnere mich, dass ich mich umdrehte und zum ersten Mal die Statue der Artemis sah; in jener Sekunde, während ich sie anstarrte, strahlte die Statue Duldung und Freigebigkeit aus, Fruchtbarkeit und Anmut und vielleicht Schönheit, sogar Schönheit. Und das beflügelte mich für einen Augenblick; meine eigenen Schatten flohen dahin, um sich mit den schönen Schatten des Tempels zu unterreden. Sie ließen mich auf ein paar Minuten gleichsam mit Licht erfüllt zurück. Das Gift war nicht in meinem Herzen. Ich starrte auf die Statue der alten Göttin – sie, die mehr gesehen und mehr gelitten, so viel mehr erlebt hatte als ich. Ich atmete heftig, um zu zeigen, dass ich die Schatten angenommen hatte, die Last, das Düstere, das sich jeden Tag auf mich senkte, als ich meinen Sohn gefesselt und blutig sah, und als ich ihn aufschreien hörte und als ich dachte, Schlimmeres
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